reader.chapter — Spiel mit Schatten
Sophia Adler
Die Luft im Penthouse war schwer, fast erdrückend, und roch nach einem Gemisch aus teurem Zigarrenrauch und einer metallischen Note, die Sophia sofort an Blut erinnerte. Der weiche Teppich unter ihren Füßen hätte die Schritte jedes anderen gedämpft, doch sie bewegte sich ohnehin lautlos, wie ein Raubtier auf der Jagd. Der Raum schien unberührt – die kunstvoll drapierten Vorhänge ließen gerade so viel Licht ins Zimmer, dass die tiefgoldenen Reflexionen der Marmorflächen die luxuriöse Einrichtung betonten. Doch hinter dieser Perfektion lag etwas Düsteres, Unausgesprochenes.
In der Mitte des Raumes lag die Leiche. Ein Mann, Mitte fünfzig, in einem maßgeschneiderten Anzug, dessen blütenweißes Hemd an der Brust mit scharlachrotem Blut durchtränkt war. Sein Kopf war grotesk zur Seite geneigt, die leblosen Augen starrten ins Nichts, als wolle er seinen Mörder bis in die Ewigkeit hinein verklagen. Sophia kniete sich hin, zog ihre Latexhandschuhe an und musterte die Szene. Sie spürte, wie ihre analytischen Gedanken einsetzten – präzise, unbestechlich, ein Uhrwerk, das keine Emotionen kannte. Doch eine winzige Stimme, tief in ihrem Inneren, drängte sich auf: _Papa wäre stolz auf dich..._
„Adler!“ Die Stimme eines Kollegen schnitt durch die Stille wie ein Messer und ließ sie innerlich zusammenzucken. Ohne aufzusehen hob sie nur eine Hand. „Nicht jetzt“, sagte sie leise, fast flüsternd, aber mit einer Klarheit und Autorität, die sie sich über die Jahre erarbeitet hatte. Der Mann verstummte sofort, und Sophia ließ ihren Blick über die Leiche wandern.
Die Wunde war sauber, ein glatter Schnitt direkt durch die Halsschlagader. Kein Zeichen von Kampf. Der Opferstuhl, der leicht zurückgeschoben war, deutete darauf hin, dass der Mann noch gesessen hatte, als er angegriffen wurde. Neben ihm lag ein halb gefülltes Weinglas, dessen kostbarer Inhalt langsam auf den Tisch sickerte. Nichts war umgestürzt, nichts wies auf einen verzweifelten Versuch hin, sich zu wehren. Es war eine Hinrichtung, choreografiert mit der Präzision eines makabren Tanzes.
Sie richtete sich auf und betrachtete den Raum genauer. Die Wände waren mit moderner Kunst geschmückt, die Möbel minimalistisch, aber teuer. Es hätte eine friedliche Szenerie sein können, wäre da nicht der Tod gewesen, der alles durchdrang. Doch Sophia spürte, dass etwas nicht stimmte. Es war nicht nur der Mord – es war die Art, wie alles so perfekt inszeniert wirkte, als wäre der Raum selbst Teil einer Nachricht.
Ihr Blick blieb an einem kleinen Detail hängen. Auf dem Boden, kaum sichtbar neben dem Tischbein, lag ein unscheinbarer schwarzer Knopf. Sophia ging in die Hocke, zog eine Pinzette aus ihrer Tasche und hob ihn vorsichtig auf. Sie hielt ihn ins Licht, drehte ihn zwischen den Fingern. Kein gewöhnlicher Knopf – er war glatt, matt und hatte an der Rückseite einen winzigen Einschub, kaum sichtbar. Ein Mikrofon? Ihr Magen zog sich zusammen. Sie hatte solche Geräte schon einmal gesehen – in Fällen, die mit der Bratva in Verbindung standen.
„Ein Zeichen?“ murmelte sie vor sich hin, das erste Mal laut genug, dass der Kollege in der Nähe es hörte.
„Was meinen Sie, Adler?“ fragte er zaghaft und trat einen Schritt näher.
Sie seufzte, richtete sich auf und ließ den Knopf in eine kleine Beweissicherungstüte gleiten. „Ich meine, dass wir es mit Profis zu tun haben. Die Bratva.“
Das Wort hing in der Luft, als hätte sie einen Zauber ausgesprochen. Die Bratva. Ihre Erwähnung war wie ein plötzliches Absinken der Temperatur im Raum. Selbst erfahrene Ermittler erschauderten bei dem Gedanken an die russische Mafia. Ihr Kollege wich unwillkürlich einen Schritt zurück, während Sophia zum Fenster trat. Sie blickte hinaus auf die Skyline von Berlin, wo das graue Licht des Nieselregens die Hochglanzfassaden der Stadt in kühler Eleganz erstarren ließ. Die Stadt wirkte wie ein stiller Komplize, der ihre Geheimnisse hütete.
Das Muster begann sich zu formen. Die Leiche, der Knopf, die diskrete Inszenierung eines Mordes, der kein Zufall sein konnte. Ein deutliches Statement, versteckt in der Subtilität. Die Bratva hinterließ keine Zufälle.
Sophias Gedanken wanderten zurück. Das Gesicht ihres Vaters, blutverschmiert, das Chaos am Tatort, die Stimmen der Ermittler, die sie hinter einer Tür nur halb verstand. Sie hatte geschworen, dass sie eines Tages die Wahrheit herausfinden würde. Und die Bratva – sie war sicher, dass sie tief darin verwickelt war. Sie wusste, dass sie tiefer graben musste, viel tiefer.
Eine halbe Stunde später befand sie sich in einem kleinen Besprechungsraum im Präsidium. Die Beweise lagen ordentlich vor ihr aufgereiht. Der leitende Ermittler, ein bulliger Mann mit scharfen Gesichtszügen und einem leichten Zynismus in der Stimme, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie herausfordernd an.
„Die Bratva, Adler? Wirklich? Du weißt, was das bedeutet?“
Sophia nickte. „Ich habe solche Mikrofone schon in einem anderen Mordfall gesehen. Ihre Verwendung zeigt ein Muster. Sie legen Spuren, die nur diejenigen erkennen können, die sie kennen. Und diese Inszenierung hier – sie schreit nach ihrer Handschrift.“ Sie deutete auf den Knopf in der Beweissicherungstüte. „Das ist kein Zufall. Entweder sie überwachten ihr Opfer, oder sie wollten sicherstellen, dass wir verstehen, wer hier das Sagen hat.“
„Adler“, sagte er und schnaubte, „du hörst dich an wie ein verdammter Verschwörungstheoretiker. Und wo sind die Beweise, die ich einem Richter vorlegen kann? Glaubst du wirklich, das hier reicht aus?“
Sophia fühlte, wie ihre Geduld abnahm. Sie trommelte mit den Fingern auf die Tischkante, bevor sie innehielt und mit ruhiger Stimme antwortete. „Es geht nicht nur um Beweise. Es geht darum, Muster zu erkennen. Und ich sehe sie, auch wenn du es nicht willst.“
Die Spannung im Raum war fast greifbar. Sie wusste, dass sie hier nicht weiterkommen würde. Die meisten ihrer Kollegen waren entweder zu ängstlich, zu uninspiriert oder – ein Gedanke, der sie erschreckte – vielleicht sogar involviert, um die Wahrheit zu erkennen. Sie würde einen anderen Weg einschlagen müssen.
In ihrem Büro griff sie nach einem Foto. Es zeigte sie und ihren Vater, aufgenommen an einem sonnigen Tag im Park. Ihr Vater hatte diesen unerschütterlichen Stolz in seinem Lächeln, ihre Hand fest in seiner. Es war das letzte Bild von ihm, bevor er starb.
Sie atmete tief durch und wählte eine Nummer auf ihrem Handy. Ihr Vorgesetzter hob nach dem dritten Klingeln ab.
„Adler, was gibt’s?“
„Ich brauche eine Genehmigung“, begann sie, ihre Stimme ruhig, aber fest.
„Für was?“ kam die kühle Antwort.
„Undercover. Der Club ‚Schatten‘. Ich bin sicher, dass wir dort Antworten finden.“
Es folgte eine lange Pause. „Adler, du weißt, auf was du dich einlässt? Das ist nicht irgendein Club. Das ist ein Nest voller Wölfe.“
„Ich weiß. Aber wenn wir nicht dorthin gehen, werden wir nie herausfinden, wer das nächste Opfer ist. Ich muss das tun.“
Ein weiterer Moment der Stille. Schließlich hörte sie ein leises Seufzen. „Gut. Du bekommst 72 Stunden. Aber Adler – wenn du auffliegst, bist du auf dich allein gestellt.“
„Verstanden.“
Sophia legte auf und setzte sich zurück. Die nächsten Schritte waren klar. Der Schatten würde sie verschlucken, wenn sie nicht vorsichtig war. Doch Vorsicht war ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte.
Ihre Augen wanderten erneut zu dem Bild ihres Vaters. Sie dachte an sein Lachen, an den Tag im Park, an die Versprechen, die sie sich selbst gegeben hatte. Die Wahrheit wartete – und sie würde sie finden. Koste es, was es wolle.