Kapitel 3 — Funken im Dunkel
Dritte Person
Die Luft in „Die Welle“ war schwer von Schweiß, Rauch und der elektrischen Energie, die durch den Club jagte, als wäre sie ein eigenes Wesen. Neonlichter warfen ein flackerndes Kaleidoskop aus Farben über die tanzende Menge, während die Bassline aus den Lautsprechern wie ein physischer Schlag durch den Raum dröhnte. Leo Winter hatte sich am Rand des Raumes positioniert, wo die Schatten tiefer waren und die Gesichter der Tanzenden in der Dunkelheit verschwammen. Er trug einfache schwarze Kleidung, die ihn unauffällig wirken ließ, und eine Kappe, die die blauen Augen verbarg, die sonst immer eine Spur von Autorität ausstrahlten. Hier war er ein Niemand, und genau das wollte er sein – zumindest äußerlich. Innerlich fühlte er sich fehl am Platz, seine Schultern leicht angespannt, seine Haltung nicht ganz so entspannt, wie er es sich wünschte.
Er hatte lange gezögert, bevor er sich entschloss, hierherzukommen. Seine Motivation war rational, zumindest redete er sich das ein: Er wollte Anna Falk beobachten, verstehen, warum ihre Musik so viel Aufmerksamkeit bekam. Doch tief in ihm wusste er, dass etwas anderes ihn hergezogen hatte – eine unkontrollierbare Neugier, die ihn seit dem Moment nicht mehr losließ, als er zum ersten Mal ihre Musik gehört hatte. Es war, als ob sie mit jeder Note etwas in ihm freigelegt hatte, das er sorgfältig begraben hatte.
Seine Hände vergraben in den Taschen, scannte Leo den Raum mit der Präzision eines Algorithmus. Die ungezähmte Energie dieses Ortes, die spontane Dynamik der Menge – all das war das völlige Gegenteil seiner geordneten Welt. Es irritierte ihn, aber es zog ihn auch an. Und dann betrat Anna die Bühne.
Die Atmosphäre im Raum änderte sich, fast greifbar. Die Menge reagierte auf sie wie auf eine Dirigentin eines unsichtbaren Orchesters; die Energie verdichtete sich, wurde fokussiert. Anna trug ein lockeres, dunkles Kleid, das an den Rändern in Neonlicht schimmerte, und ihre Haare fielen ihr wild ins Gesicht, als sie die ersten Töne aus ihren Synthesizern entlockte. Ihre Bewegungen waren so impulsiv wie präzise, ihre Finger tanzten über die Regler und Tasten, als würde sie mit der Musik selbst kommunizieren.
Leo spürte, wie die Klänge durch ihn hindurchgingen, nicht nur seine Ohren erreichten, sondern tiefer, in eine Region seines Wesens, die er längst begraben hatte. Ihre Musik war nicht perfekt im mathematischen Sinn, nicht glatt und optimiert – sie war roh, manchmal unberechenbar, und genau das machte sie so wirkungsvoll. Sie war wie eine Erinnerung, die sich ungebeten in seinen Verstand schlich: ein Kindheitsmoment, in dem seine Mutter am Klavier saß, eine Melodie spielte, die er längst vergessen geglaubt hatte. Die Töne schienen etwas in ihm aufzubrechen, etwas, das er nicht benennen konnte. Es war... beunruhigend und faszinierend gleichzeitig.
Jede Note schien ein Stück von Anna selbst zu sein, ein Teil ihrer Seele, und Leo konnte spüren, warum sie die Menschen so sehr in ihren Bann zog. Sie war alles, was er nicht war: spontan, chaotisch, ein Funke, der jeden Moment ein Feuer entzünden konnte.
Er beobachtete sie, wie sie mit geschlossenen Augen spielte, ganz in die Musik versunken. Ihre Präsenz füllte den Raum, ließ ihn kleiner, intimer wirken, trotz der Dutzenden von Körpern, die sich rhythmisch bewegten. Und dann, in einem flüchtigen Moment, schien sie aufzublicken und direkt zu ihm zu sehen. Ihre grünen Augen durchdrangen den Raum, als ob sie ihn erkannt hätte, und für einen winzigen Augenblick hielt Leo den Atem an. Doch schon im nächsten Moment war der Blick gebrochen, und sie wandte sich wieder ihrem Setup zu, völlig in ihrer Kunst verloren.
Leo zwang sich, die Spannung zu ignorieren, die dieser Augenblick in ihm ausgelöst hatte. Doch die leise, unerwartete Unruhe in seiner Brust blieb. Er wusste nicht, wie lange er dort gestanden hatte, als die Musik schließlich verklang und die Menge in tosenden Applaus ausbrach. Anna verneigte sich kurz, ein rebellisches Lächeln auf den Lippen, und verschwand dann durch einen Seitenausgang von der Bühne.
Er wollte gehen, wirklich. Doch seine Füße bewegten sich nicht in Richtung Ausgang, sondern folgten den Schatten, die Anna hinterließ. Er drängte sich an der Menge vorbei, seine Schritte vorsichtig, fast unbewusst. In einer Ecke des Raumes fiel sein Blick auf einen Mann, der ihn zu fixieren schien. Für einen Moment dachte Leo, er könnte erkannt worden sein, doch der Blick des Fremden war gleichgültig, vielleicht nur zufällig auf ihn gefallen. Es war ein unbedeutender Moment, aber Leos Herz schlug schneller. Er wusste, dass seine Anonymität zerbrechlich war, und doch trieb ihn etwas weiter.
Der Hinterhof von „Die Welle“ war ein schmaler, von grauen Betonwänden umgebener Raum, der nur von einer flackernden Lampe über der Ausgangstür erleuchtet wurde. Die Luft war kühler hier draußen, und der Geruch von Rauch und Bier vermischte sich mit der feuchten Kühle der Nacht. Anna stand an der Wand, eine Zigarette zwischen den Fingern, ihre Augen in die Dunkelheit gerichtet. Sie schien völlig entspannt, doch Leo konnte die Spannung in ihrer Haltung sehen – die Art, wie ihre Schultern leicht nach vorne gebeugt waren, wie ihre Finger die Zigarette etwas zu fest hielten.
„Beeindruckend,“ sagte er schließlich, seine Stimme ruhig und tief, fast ein Flüstern gegen die Geräusche der Stadt im Hintergrund. Anna drehte sich um, ihre Augen weiteten sich für einen kurzen Moment, bevor sie sich sammelte. Sie musterte ihn gründlich, ihre Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln.
„Keine Autogramme heute Abend,“ sagte sie trocken und nahm einen Zug von ihrer Zigarette. „Aber danke fürs Kommen.“
Leo trat einen Schritt näher, blieb jedoch auf respektvolle Distanz. „Ich bin kein Fan, wenn du das meinst. Zumindest war ich es nicht, bis heute Abend.“
Anna hob eine Augenbraue. „Ein Kritiker also?“ Sie musterte ihn erneut, ihre Augen suchten etwas in seinem Gesicht. „Du siehst nicht aus wie einer von den üblichen Journalisten.“
„Ich bin kein Journalist.“ Seine Stimme klang genauso kontrolliert, wie seine Haltung es war. Er hatte keine Ahnung, warum er hier war, warum er mit ihr sprach, aber etwas an diesem Moment fühlte sich... notwendig an.
„Dann bist du nur ein Mann, der zufällig in einem Underground-Club auftaucht, in dem ich spiele, und zufällig hinter die Bühne kommt?“ Sie nahm noch einen Zug und ließ ihn langsam ausströmen. Ihr Blick war wachsam, herausfordernd. „Klingt ziemlich verdächtig.“
Leo lächelte leicht, ein Lächeln, das selten auf seinem Gesicht erschien. „Vielleicht bin ich einfach jemand, der neugierig ist.“
„Neugierig,“ wiederholte sie, als würde sie das Wort abwägen. „Das ist nicht das, was ich normalerweise höre. Meistens sagen sie ‚gefährlich‘ oder ‚unberechenbar‘. Aber neugierig? Das gefällt mir.“
Er neigte leicht den Kopf. „Ich kann sehen, warum die Leute das sagen würden. Deine Musik... sie ist anders. Sie hat eine Art, Dinge zu bewegen.“
Anna lachte leise, ein Lachen, das irgendwo zwischen Belustigung und Bitterkeit lag. „Dinge bewegen, ja. Meistens die falschen Leute an den falschen Orten.“ Sie warf den Zigarettenstummel auf den Boden und trat ihn mit dem Absatz aus. „Aber das ist der Punkt, oder? Chaos ist die einzige Sprache, die sie nicht kontrollieren können.“
Leo fühlte, wie diese Worte etwas in ihm auslösten. Chaos – ein Konzept, das er immer vermieden hatte, das er immer kontrollieren wollte. Und doch stand er hier, fasziniert von der Frau, die dieses Chaos verkörperte. „Und du hast keine Angst davor?“
„Angst?“ Anna lachte, diesmal lauter. „Natürlich habe ich Angst. Jeder hat Angst. Aber ich lasse sie nicht entscheiden, was ich tue.“
Sie sah ihn direkt an, ihre grünen Augen funkelten im schwachen Licht. Leo erwiderte den Blick, und für einen Moment war die Welt um sie herum still. Es war, als ob sie beide etwas in dem anderen erkannten, etwas, das sie noch nicht ganz begreifen konnten.
„Also, was machst du hier draußen, Mister Neugierig?“ fragte sie schließlich, die Spannung mit einer beiläufigen Bemerkung brechend. „Bist du ein Spion oder einfach nur ein sehr schlechter Tänzer?“
Leo lächelte erneut, doch diesmal war es ein Lächeln, das etwas Unsicheres hatte. „Vielleicht ein bisschen von beidem.“
Anna schüttelte den Kopf und lachte wieder, diesmal freier. „Du bist seltsam, weißt du das? Aber ich mag seltsam. Es macht die Dinge interessanter.“
Bevor Leo antworten konnte, öffnete sich die Tür des Clubs, und Jonas trat heraus. Sein Blick fiel sofort auf Leo, und seine Augen verengten sich. „Anna, alles in Ordnung hier?“ fragte er scharf, während er näher trat.
„Alles gut, Jonas,“ sagte Anna, ihre Stimme beruhigend. „Wir führen nur ein Gespräch.“
Jonas sah Leo einen Moment lang an, dann wandte er sich an Anna. „Wir sollten gehen. Es wird spät.“
Anna nickte, warf Leo noch einen letzten Blick zu und lächelte. „Vielleicht sehen wir uns wieder, Mister Neugierig.“ Dann wandte sie sich ab und folgte Jonas zurück in den Club, ihre Schritte hallten leise auf dem Betonboden.
Leo blieb allein im Hinterhof zurück, die Nachklänge ihrer Worte in seinem Kopf. Chaos, hatte sie gesagt. Die einzige Sprache, die sie nicht kontrollieren können. Und zum ersten Mal in seinem Leben fühlte Leo sich, als hätte das Chaos ihn gefunden – und er wusste nicht, ob er es aufhalten wollte.