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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 1Schatten der Vergangenheit


Anna

Das leise Ticken der Wanduhr zählte die Minuten bis zum Morgengrauen. Anna Lebedewa saß in ihrem kleinen Wohnzimmer, die Beine angezogen, ihre Augen starr auf die Schwarz-Weiß-Fotografie an der gegenüberliegenden Wand gerichtet. Sie zeigte eine alte russische Datscha, die einst am Rande eines Waldes gestanden hatte. Der Ort schien so weit entfernt zu sein, als hätte er nur in einem Traum existiert. Ein Traum, der sich längst in einen Albtraum verwandelt hatte.

Die Tasse mit kaltem Kaffee in ihren Händen war längst vergessen. Das fahle Licht der Straßenlaterne, das durch die dünnen Vorhänge fiel, schnitt scharfe Schatten in den Raum. Die Schatten krochen wie ungebetene Gäste in jede Ecke, ebenso beherrschend wie die Erinnerungen, die sie so verzweifelt zu verdrängen versuchte. Die Nacht war ruhig, doch für Anna war Stille nie ein Trost gewesen. Es war eine Bühne, auf der die Stimmen aus der Vergangenheit ihre unausweichliche Aufführung hielten.

Ein Seufzen entwich ihr, als sie die Tasse auf einem couchtischartigen Kasten abstellte. Sie zwang sich aufzustehen, die lähmende Schwere von sich abzuschütteln, die sie umklammerte. Ihre Wohnung war ein Ort der Ordnung, der Kontrolle – zumindest oberflächlich. Die neutralen Wände, die akkurat gefalteten Decken, die minimalistische Einrichtung: alles durchdacht, alles an seinem Platz. Dennoch fühlte sie sich nicht sicher. Es war ein trügerisches Gefühl von Schutz, ein dünner Schleier, der jederzeit zerrissen werden konnte.

Anna trat ans Fenster und schob den Vorhang zur Seite. Draußen glitzerte der nasse Asphalt unter dem Licht der Laternen, und der kalte Wind trug die vereinzelten Rufe eines streunenden Vogels davon. Ein Mann mit einem schwarzen Regenschirm eilte die Straße entlang, der Kragen seines Mantels gegen den Wind hochgeschlagen. Sein Schritt war hastig, fast gehetzt – ein Flüchtiger in der Nacht, ob vor dem Wetter oder etwas anderem, konnte sie nicht sagen. Sie beobachtete ihn, bis er hinter der nächsten Ecke verschwand. Ihr analytischer Verstand registrierte jede Kleinigkeit: die unregelmäßigen Schritte, das nervöse Zucken seiner Schulter, als sei er sich einer unsichtbaren Beobachtung bewusst. Dann war er fort, und die Straße lag wieder leer da.

Sie hatte versucht, ein neues Leben zu beginnen, ein Leben, das ihren Namen und ihre Vergangenheit auslöschte. Als Psychologin in der Beratungsstelle hatte sie sich eine Nische geschaffen, in der sie anderen helfen konnte. Sie verstand Leid. Verstand Angst. Und doch hatte sie die Lektion gelernt, dass diese Gefühle niemals ganz verschwanden – sie verwandelten sich nur, lauerten in anderen Formen, bereit, sich in den schwächsten Momenten ihrer Opfer zu entladen.

Ein kurzes Klopfen an der Tür schnitt durch die Stille und riss sie aus ihren Gedanken. Es war spät, viel zu spät für einen Besuch. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und sie blieb reglos stehen, ihre Augen auf die Tür geheftet. Das Klopfen kam erneut, diesmal fester, eindringlicher. Anna straffte die Schultern, zwang sich, tief durchzuatmen, und ging schließlich zur Tür.

„Wer ist da?“ Ihre Stimme war ruhig, kontrolliert, doch ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen.

„Ich bin es, Elena.“ Die gedämpfte Stimme ihrer Kollegin ließ Anna einen Moment innehalten. Was machte Elena um diese Uhrzeit hier? Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt. Elena stand im Rahmen, in einen beigen Mantel gehüllt, ihre Augen müde und gehetzt. Der Wind hatte ihre Wangen gerötet, und sie presste ihre Handtasche so fest an sich, als hinge ihr Leben davon ab.

„Es tut mir leid, dass ich dich so spät störe“, begann Elena und trat unaufgefordert über die Schwelle. Anna schloss die Tür hinter ihr, beobachtete jede Bewegung ihrer Kollegin. Elenas Hände zitterten leicht, als sie ihren Mantel öffnete, ihre Lippen waren trocken und aufgerissen. Es war, als könnte sie die Last, die sie mitbrachte, kaum tragen.

„Was ist los?“ Anna lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust, ihre Augen fixierten Elena forschend. Die Unruhe ihrer Kollegin war ansteckend, doch sie hielt ihre Fassade aufrecht.

Elena fuhr sich nervös durch ihr zerzaustes blondes Haar. „Es... es geht um Nadja.“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch der Name traf Anna wie ein Schlag. Nadja war eine neue Klientin in der Beratungsstelle, eine junge Frau, die vor wenigen Wochen aufgetaucht war. Ihre Augen hatten Geschichten erzählt, die sie nicht auszusprechen wagte, und Anna hatte sofort gespürt, dass hinter ihrer stillen Panik etwas Dunkles lauerte.

„Was ist mit ihr?“ Annas Stimme war kühl, aber ihre Finger gruben sich unwillkürlich in die Ärmel ihres Cardigans.

Elena wich ihrem Blick aus, suchte scheinbar nach den richtigen Worten. „Sie hat heute etwas gesagt, das mich beunruhigt hat. Über Männer, die sie verfolgen. Über etwas, das sie gesehen oder gehört hat.“

„Was genau hat sie gesagt?“ Annas Augen verengten sich, ihre Haltung blieb regungslos, doch innerlich rasten ihre Gedanken.

„Nur Andeutungen“, murmelte Elena. „Aber sie hat Angst – mehr Angst, als ich je bei jemandem gesehen habe. Es ist... es ist wie ein Abgrund. Und ehrlich gesagt, Anna... ich glaube, sie hat recht. Ich glaube, sie... sie ist wirklich in Gefahr.“

Anna spürte, wie sich in ihrem Inneren etwas zusammenzog, eine scharfe, kalte Panik, die sie umklammerte. Sie war versucht, Elenas Worte als übertriebene Sorge abzutun, doch ihr Instinkt warnte sie. Nadjas Verhalten hatte von Anfang an Fragen aufgeworfen, Fragen, die sie nicht ignorieren konnte.

„Hast du mit ihr gesprochen? Ihr Hilfe angeboten?“ Annas Ton war analytisch, fast distanziert, doch die unterschwellige Dringlichkeit ließ sich nicht ganz verbergen.

„Ich habe es versucht.“ Elena ließ sich schwer auf das Sofa sinken, ihre Hände rieben nervös über den Stoff ihrer Handtasche. „Aber sie lässt niemanden an sich heran. Es ist, als ob sie... als ob sie weiß, dass es keinen Ausweg gibt.“

Anna wandte den Blick ab, starrte einen Moment aus dem Fenster, wo der Regen begann, in dichten Schlieren auf das Glas zu prasseln. „Wir müssen mehr über sie herausfinden“, sagte sie schließlich, mehr zu sich selbst als zu Elena. „Nadjas Angst kommt irgendwoher. Und wenn sie recht hat...“

Elena erhob sich langsam, ihre Bewegungen schwer, als trüge sie eine unsichtbare Last. „Ich wollte dich nicht beunruhigen, aber ich dachte, du solltest es wissen.“

„Danke“, erwiderte Anna leise. Sie begleitete Elena zur Tür, und als diese gegangen war, lehnte sie sich dagegen, ihre Stirn gegen das kühle Holz gedrückt. Der Raum schien plötzlich noch stiller, noch bedrückender.

Zurück im Wohnzimmer griff Anna nach ihrem Notizbuch, das auf dem Couchtisch lag. Mit zitternden Fingern schlug sie eine leere Seite auf und begann zu schreiben – präzise, kurze Notizen über Nadja, ihre Verhaltensweisen, die Andeutungen, die sie gemacht hatte. Doch je länger sie schrieb, desto stärker drängte sich das Gefühl auf, dass diese Geschichte größer war, als sie zunächst angenommen hatte.

Draußen wurde der Regen intensiver, und das entfernte Läuten einer Kirchenglocke hallte durch die Nacht. Anna schloss für einen Moment die Augen, legte den Stift zur Seite. Erinnerungen – scharf, schmerzhaft – blitzten hinter ihren Lidern auf. Die Schatten in ihrer Wohnung schienen dichter zu werden, schwerer, als wollten sie sie erdrücken.

Etwas Dunkles näherte sich ihrem Leben, dessen war sie sich sicher. Und diesmal, so wusste sie tief in ihrem Inneren, würde es keinen Ausweg geben.