Kapitel 2 — Das Netz der Bratva
Sergej Ivanov
Das Licht im Büro von Sergej Ivanov war gedämpft, die Schatten der schweren Vorhänge tanzten in den Ecken des Raums wie verstohlene Geister. Ein massiver Holztisch beherrschte die Mitte, seine Oberfläche makellos, abgesehen von einem geöffneten Laptop, einem Glas Wodka und einer halb heruntergebrannten Zigarre, deren Rauch in langsamen Spiralen zur Decke aufstieg. An den Wänden reihten sich Regale mit Akten und eine Reihe von Überwachungsmonitoren, auf denen Hafenanlagen und Lagerhallen in körnigem Schwarz-Weiß zu sehen waren, wie stumme Zeugen eines unsichtbaren Machtgefüges. Die Stille war so dicht, dass das gelegentliche Knacken des Eichenholzes unter der Hitze des Kamins beinahe bedrohlich wirkte.
Sergej saß zurückgelehnt in seinem ledernen Sessel, eine Hand um das Glas geschlungen, die andere ruhte auf der Armlehne. Sein Blick war auf den Laptop gerichtet, wo das Bild einer Frau den Bildschirm ausfüllte: Anna Lebedewa. Ihr Gesicht war ruhig, fast emotionslos, ihre grauen Augen schienen ihn direkt zu durchbohren, trotz der schlechten Auflösung. Neben ihr eine Liste von Details – Bewegungsmuster, Wohnadresse, Arbeitsplatz. Sergejs Finger trommelten rhythmisch auf die Armlehne, eine Bewegung, die von einem Mann sprach, dessen Geduld sich dem Ende zuneigte.
„Eine Psychologin“, murmelte er schließlich, seine tiefe Stimme zerschnitt die Stille wie ein Messer. Er nahm einen Schluck aus seinem Glas, das Klirren der Eiswürfel hallte kurz wider, bevor es in der Schwere des Raums verschwand. „Ausgerechnet eine verdammte Psychologin.“
Der Mann, der vor ihm stand, verharrte regungslos. Michail Rudenko war wie ein Schatten: groß, breit gebaut, mit einer Präsenz, die den Raum erfüllte, ohne ein Geräusch zu machen. Seine eisblauen Augen ruhten auf Sergej, doch sein Gesicht blieb leer, wie eine verschlossene Tür. Er wartete, wie immer.
„Du fragst dich wahrscheinlich, warum jemand wie sie uns Sorgen macht“, fuhr Sergej fort, ohne Michails Unbeweglichkeit zu beachten. Er lehnte sich nach vorne und drückte einen Knopf auf dem Laptop. Eine Reihe von Dokumenten füllte den Bildschirm: gescannte Berichte, Fotos, handschriftliche Notizen. Bilder von Nadja, einer jungen Frau mit großen, besorgten Augen, blitzten auf. „Eine gewisse Nadja, eine unserer… ehemaligen Mitarbeiterinnen, hat sich in ihrem Büro einen Namen gemacht. Es scheint, dass sie über Dinge geredet hat, über Dinge, die besser ungesagt bleiben.“
Sergej schob das Laptop leicht zur Seite und griff nach der Zigarre. Er drehte sie in seinen Fingern, bevor er den Rauch tief einatmete, als würde er nachdenken. Sein Blick wanderte kurz zu einem der Monitore, auf dem ein Mann mit einem Klemmbrett Containerstapel inspizierte.
„Und diese Anna Lebedewa hat davon erfahren?“ Michails Stimme war ruhig, fast beiläufig, doch Sergej bemerkte das kaum merkliche Zucken seines Kiefers.
„Möglicherweise. Diese Nadja ist verschwunden, aber wir wissen, dass Anna eine Verbindung zu ihr hat. Und jetzt gibt es Gerüchte, dass sie Fragen stellt. Fragen, die gefährlich werden könnten.“ Sergej ließ sich zurücksinken, nahm einen weiteren Schluck aus seinem Glas. „Du weißt, wie das läuft, Michail. Solche Dinge müssen gestoppt werden. Bevor sie Wurzeln schlagen.“
Michail nickte langsam, ein fast mechanischer Akt, der verriet, dass er diesen Befehl unzählige Male zuvor erhalten hatte. „Was genau verlangen Sie von mir?“
„Finde sie“, sagte Sergej, ohne zu zögern. „Beobachte sie. Finde heraus, was sie weiß. Und wenn sie uns gefährlich wird…“ Er pausierte und drückte die Zigarre in den Aschenbecher, bevor er sie mit einem Knacken zerbrach. „…dann wirst du wissen, was zu tun ist.“
Michail blieb still, seine Miene unverändert, doch innerlich spürte er ein Ziehen, ein leises, unangenehmes Zögern. Der Name hatte etwas in ihm ausgelöst, etwas, das er nicht richtig einordnen konnte.
„Ist sie wichtig für uns oder nur eine… Ablenkung?“ fragte er schließlich.
Sergej lächelte, ein kaltes, humorloses Lächeln, das weder seine Augen erreichte noch irgendeine Wärme ausstrahlte. „Wichtige Fragen zu stellen, ist nicht deine Aufgabe, Michail. Ich erwarte, dass du sie im Auge behältst, bis ich weiß, ob wir uns Sorgen machen müssen. Und wenn ja, dann…“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause. „…beende es.“
Michails Blick fiel zurück auf den Laptop. Annas Foto blieb auf dem Bildschirm, ihre Augen schienen ihn fast zu beobachten. Der Name fühlte sich vertraut an, und während Sergej weiter sprach, begann sein Geist, durch die Nebel seiner Erinnerung zu wandern.
Die Tür öffnete sich, und ein jüngeres Mitglied der Bratva trat ein, mit gesenktem Kopf und einem Handy in der Hand. Sergej nahm das Gerät, ohne den Mann weiter zu beachten, und sprach leise hinein, während sein Blick Michail keine Sekunde aus den Augen ließ.
„Du hast alles, was du brauchst“, sagte er abschließend, nachdem er das Gespräch beendet hatte. „Geh jetzt.“
Michail drehte sich ohne ein weiteres Wort um und verließ das Büro. Die Luft draußen war kalt, durchdrungen von Salz und Metall, die Dunkelheit wurde nur von den Straßenlaternen und dem fahlen Glimmen der Hafenanlagen durchbrochen.
Er zog den Kragen seines Mantels höher und setzte sich in Bewegung. Der Hafen in der Ferne erhob sich wie ein stiller Koloss, ein Labyrinth aus Kränen und Containern, das die Bratva als ihr Territorium markierte. Sein Verstand war still, wie immer, wenn er einen Auftrag erhielt. Doch diesmal schien etwas anders. Der Name, das Gesicht – das Mädchen auf dem Bildschirm hatte etwas in ihm geweckt. Etwas Altes.
Er erinnerte sich an Sommertage in einem kleinen Dorf, an das Lachen eines Mädchens, das ihm einst die Hand gereicht hatte, als er gefallen war. Anna. Konnte es dieselbe Anna sein? Konnte das Mädchen, das ihm damals ein Gefühl von Hoffnung gegeben hatte, nun die Frau sein, die er auslöschen sollte?
Michail schüttelte den Gedanken ab. Persönliche Gefühle hatten in seinem Leben keinen Platz. Nicht mehr. Doch während er Richtung Hafen ging, um die ersten Schritte seines Auftrags zu planen, konnte er das Bild ihres Gesichts nicht aus seinem Kopf verbannen.
Er wusste, dass dies kein gewöhnlicher Auftrag war. Nicht für ihn. Und tief in seinem Inneren erkannte er, dass nichts an dieser Mission einfach sein würde.