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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Flüstern im Dunkeln


Anna

Die Nacht kroch unerbittlich durch die Straßen, und die Kälte, die durch die Fenster drang, schien Annas kleines Büro zu umarmen. Das gedämpfte Licht der Schreibtischlampe warf lange Schatten über die vergilbten Dokumente, die sich wie eine stille Anklage vor ihr aufhäuften. Ihre Finger glitten über die Kanten ihres Notizbuchs, während sie sich zwang, den Fluss ihrer Gedanken zu ordnen. Doch ihre grauen Augen, die sonst so kühl und analytisch wirkten, zeigten heute einen Hauch von Müdigkeit, der über ihre übliche Beherrschung hinausging.

Nadjas Worte klangen noch in ihrem Kopf nach, jedes davon wie ein zartes Echo, das in den Tiefen ihres Unterbewusstseins widerhallte. „Sie beobachten mich… sie lassen mich nicht los…“ Die Panik in den Augen der jungen Frau war mehr als ein bloßer Ausdruck von Angst. Es war ein Flehen, eine stumme Bitte um Hilfe, die Anna tiefer berührte, als sie zugeben wollte. Es war nicht die erste Klientin, die mit Angst und Schrecken in ihre Beratungsstelle kam, aber Nadja war anders. Ihre Stille sprach ebenso laut wie ihre Worte, und das Zittern ihrer Hände hatte Anna an etwas erinnert – oder jemanden –, das sie lieber vergessen hätte.

Als Nadja das letzte Mal in der Beratungsstelle war, hatte sie ihre Finger in einem unruhigen Rhythmus aneinander gerieben, während sie aus dem Fenster starrte, als erwarte sie, dass jeden Moment jemand durch die Tür treten würde. Es war diese ständige Wachsamkeit, die Anna nicht losließ. Es war keine Paranoia, es war Überleben.

Anna lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, ihre Hände ineinander verschränkt, während ihr Blick zur Wand wanderte. Das Freud-Zitat, das sie einst zur Inspiration angebracht hatte, wirkte nun hohl und bedeutungslos: „Aus deinen Schwächen wird deine Stärke erwachsen.“ Sie unterdrückte ein bitteres Lachen. Stärke... Nadja hatte keine Stärke übrig, nur eine zerbrechliche Hülle, die von einer unsichtbaren Last erdrückt wurde.

Ein leises Klopfen an der Tür riss Anna aus ihren Gedanken. Ihr Körper spannte sich an, und einen Moment lang hielt sie den Atem an. Es war bereits spät, und Besuche um diese Zeit waren selten ein gutes Zeichen. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, erhob sich langsam und öffnete die Tür.

Elena stand dort, ihre schmalen Schultern leicht nach vorne gebeugt, als würde sie die Last der Welt auf ihnen tragen. Ihre Augen huschten nervös über den Flur, bevor sie Anna ansah. „Anna, ich muss mit dir sprechen. Es ist wichtig.“

Anna trat zur Seite und ließ Elena eintreten. Sie schloss die Tür hinter ihr und beobachtete, wie die Kollegin ihre Handtasche fest umklammerte, als wäre sie ein Rettungsanker. „Was ist los?“ Annas Stimme war ruhig, aber in ihrem Inneren formte sich ein Knoten aus Unbehagen.

Elena setzte sich auf die Kante des Besucherstuhls und zog einen tiefen Atemzug, bevor sie sprach. „Es geht um Nadja. Ich glaube, sie ist in großer Gefahr.“

Die Worte waren wie ein kalter Stich. Anna setzte sich gegenüber und verschränkte die Arme. „Was genau meinst du damit?“

Elena senkte die Stimme, als würde sie fürchten, dass jemand durch die Wände lauschen könnte. „Sie hat mir angedeutet, dass… dass da Männer sind. Männer, die sie verfolgen. Sie wollte mir nichts Genaues sagen, aber die Angst in ihren Augen… Anna, das war keine normale Angst.“

Anna nickte langsam und betrachtete Elena, deren Finger nervös über den Saum ihrer Jacke glitten. „Hat sie dir gesagt, wer diese Männer sind? Oder warum sie sie verfolgen?“

Elena schüttelte den Kopf. „Nein. Aber sie hat etwas von einem ‚Netzwerk‘ erwähnt. Sie sagte, sie hätte etwas gesehen, was sie nicht hätte sehen sollen.“

Ein kalter Schauer lief Anna über den Rücken. Ein Netzwerk. Das Wort fühlte sich schwer und bedrohlich an, als trage es die Macht, Leben zu zerstören.

„Hat sie dir sonst noch etwas gesagt? Irgendetwas, das uns helfen könnte, sie zu schützen?“

Elena zögerte, und in diesem Zögern lag eine Wahrheit, die Anna mit einem Schlag klar wurde. „Du hältst etwas zurück.“

Elena sah sie an, ihre Augen weiteten sich leicht, bevor sie wieder auf ihre Hände starrte. „Ich… ich weiß nicht, ob das wichtig ist. Aber sie erwähnte einen Namen. Sergej.“

Das Blut in Annas Adern schien für einen Moment zu gefrieren. Sergej. Es konnte Zufall sein, aber in Annas Welt gab es selten Zufälle. Der Name weckte Erinnerungen an eine Welt, die sie hinter sich gelassen hatte – oder zu haben glaubte.

„Und du hast nichts weiter über diesen Sergej herausgefunden?“ Annas Stimme blieb ruhig, aber der Druck in ihrer Brust wuchs.

Elena schüttelte den Kopf. „Nein, aber… Anna, ich habe Angst. Was, wenn wir uns da in etwas hineinziehen lassen, das wir nicht kontrollieren können?“

Anna erhob sich und ging langsam zum Fenster. Die nächtliche Straße lag still vor ihr, nur das gedämpfte Licht der Laternen ließ die Schatten tanzen. Sie wusste, dass Elenas Angst berechtigt war. Aber noch stärker als diese Angst war der Drang, die Wahrheit herauszufinden – egal, wie gefährlich sie sein mochte.

„Wir müssen vorsichtig sein“, sagte sie schließlich und drehte sich zu Elena um. „Hast du noch Kontakt zu Nadja?“

„Nein. Sie ist seit zwei Tagen nicht mehr erschienen.“

Das Unbehagen in Annas Innerem verwandelte sich in eine düstere Gewissheit. Nadja war nicht einfach verschwunden. Irgendetwas hatte sie verschluckt, etwas Dunkles, das am Rande von Annas Wahrnehmung lauerte.

Nachdem Elena gegangen war, blieb Anna allein im Büro zurück. Sie blätterte durch ihr Notizbuch, notierte jedes Detail, das sie von Nadja und Elena erfahren hatte, und versuchte, ein Muster zu erkennen. Doch alles, was sie fand, waren Fragmente – Puzzlestücke, die nicht zusammenzupassen schienen.

Ein dumpfes Geräusch ließ sie aufschrecken. Sie starrte zur Tür, lauschte – aber nichts folgte. Plötzlich überkam sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Vielleicht war es nur ihre eigene Paranoia, aber sie konnte das flüchtige Kribbeln in ihrem Nacken nicht ignorieren, das sie warnte.

Sie stand auf, zog ihre Jacke an und verließ das Büro. Die eisige Luft der Nacht schlug ihr entgegen, während sie die leeren Straßen entlangging. Sie wusste, dass sie nicht nach Hause gehen konnte, nicht jetzt. Stattdessen zog es sie zu einem Ort, der ihr Ruhe und Klarheit versprach – einem kleinen Café, das auch zu später Stunde noch geöffnet hatte.

Als sie das Café betrat, spürte sie die Wärme, die von den altmodischen Lampen und dem Duft nach frisch gebrühtem Kaffee ausging. Sie bestellte einen Espresso und setzte sich in eine Ecke, von wo aus sie die Tür im Blick behalten konnte.

Während sie ihren Kaffee schlürfte, spürte sie eine vage Unruhe, die sie nicht abschütteln konnte. Sie beobachtete die wenigen Gäste, die sich im Raum verstreut hatten, suchte nach etwas, das sich falsch anfühlte. Aber alles schien normal.

Bis sie ihn sah.

Ein Mann saß an einem Tisch in der Nähe der Tür, ein Buch vor sich, das er zu lesen schien. Sein grauer Schal war auf eine Weise gebunden, die ihr seltsam vertraut vorkam – ein alter Stil, der in Russland gängig war. Doch es war seine Haltung, die ihre Alarmglocken schrillen ließ: zu aufmerksam, zu angespannt. Sein Blick ruhte nie lange auf dem Buch. Stattdessen glitt er unmerklich durch den Raum.

Langsam legte sie ihre Tasse ab und griff nach ihrer Tasche. Sie konnte nicht sicher sein, ob er wirklich eine Bedrohung darstellte, aber sie hatte nie gelernt, solche Warnungen zu ignorieren.

Als sie das Café verließ, fühlte sie die Kälte wieder auf ihrer Haut. Der Mann folgte ihr nicht sofort, aber sie wusste, dass er nicht weit weg sein würde. Sie beschleunigte ihre Schritte, ließ die Dunkelheit der Stadt sie verschlucken, und mit jeder Ecke, die sie nahm, wuchs das Gefühl, dass der Schatten der Bratva näher rückte.

Am Ende der Straße blieb sie stehen, das Herz hämmerte in ihrer Brust. Sie drehte sich um, suchte nach dem Mann, aber er war nicht zu sehen. Vielleicht hatte sie sich getäuscht. Vielleicht...

Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das Spiel begonnen hatte.