App herunterladen

Liebesromane an einem Ort

Kapitel 1Im Schatten der Vergangenheit


Konstantin und Sophia

Die Dunkelheit des frühen Abends war bereits in das verzweigte Labyrinth von Konstantins Anwesen gesickert, wo die Schatten wie geisterhafte Hände entlang der massiven Steinmauern krochen. Der schwere Himmel, in einem durchdringenden Grau getränkt, verschluckte die letzten Spuren von Licht, während ein kalter Wind durch die kahlen Äste der Bäume pfiff. Konstantin Stein saß in seinem Arbeitszimmer, das durch die gedämpfte Beleuchtung eines einzelnen antiken Kronleuchters in ein schummriges Licht getaucht war. Die Fenster, deren Vorhänge halb geöffnet waren, zeigten eine Aussicht auf den verwilderten Garten, der wie ein lebender Traum aus Chaos und Vergessen wirkte.

Vor ihm lag ein Buch – kein Roman, sondern ein nüchternes Werk über Wirtschaftstheorien. Doch seine Augen folgten den Wörtern nicht. Die Zeilen lösten sich in bedeutungslose schwarze Formen auf, während ein vertrautes Gewicht auf seinen Schultern lastete. Schuld und Erinnerung. Bilder blitzten vor seinem inneren Auge auf: ein strahlendes Lachen, ein warmer Hauch von Parfum, die letzten Worte, die er mit so schneidender Kälte gesprochen hatte. Und dann: der Aufprall. Das zerbrochene Glas, das Schreien, das abrupt verstummte. Die Stille danach hatte sich wie ein ewiger Schatten in seine Seele gebrannt.

Ein leises Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Elias trat ein, die Schritte seines Haushälters waren kaum zu hören auf dem alten Holzfußboden. Konstantin spürte seine Anwesenheit, hob jedoch den Blick nicht. „Das Abendessen steht bereit, Herr Stein“, sagte Elias ruhig, seine Stimme wie immer respektvoll, aber mit einem Hauch väterlicher Wärme.

„Ich habe keinen Hunger“, entgegnete Konstantin, ohne sich vom Fenster abzuwenden. Seine Stimme war flach, mechanisch, doch ein winziger Anklang von Erschöpfung schwang in seinen Worten mit.

Elias verharrte einen Moment in der Tür, als wolle er etwas sagen, doch er hielt inne. Sein Blick wanderte kurz zu Konstantins schmalen Schultern und dem unbewegten Gesicht, das sich im Schemen des Fensterspiegelte. Schließlich nickte er leise, seine Züge von Sorge durchzogen, und zog sich zurück. Doch der kurze Moment, in dem er zögerte, bevor er die Tür schloss, verriet mehr als Worte es je könnten.

Draußen im Garten begann ein leiser Regen. Die Tropfen fielen unregelmäßig, erst sanft, dann heftiger, als wollten sie das Anwesen selbst wachrütteln. Konstantin saß eine Weile reglos, während das Trommeln des Regens auf das Glas über ihm klang wie ein ferner Herzschlag. Schließlich erhob er sich, fast widerwillig, und trat ans Fenster. Der Wind bewegte die kahlen Äste der Bäume, doch sein Blick blieb an der Skulptur hängen, die halb von Moos und Gestrüpp überwuchert war – ein Überbleibsel von jener Zeit, als der Garten noch gepflegt und voller Leben gewesen war.

Die Skulptur hatte seine Frau in einem endlosen Sommer ihrer gemeinsamen Vergangenheit erschaffen. Sie hatte die perfekte Symmetrie von Ordnung und Natur gesucht, eine Balance, die Konstantin nie verstanden hatte. Sein Atem beschlug das Glas, als er die Stirn gegen das kalte Fenster lehnte. Es war eine Qual, hier zu bleiben, und doch auch eine Strafe, die er sich selbst auferlegt hatte. Das Haus, der Garten – sie waren Erinnerungen und Gefängnis zugleich, ein Ort, der ihn immer wieder zurück in das Unausweichliche zog.

***

Sophia Berg zog ihre Jacke enger um sich, während sie durch die Pflasterstraßen der Stadt ging. Der Wind spielte mit den losen Strähnen ihrer wilden Haare, doch sie schenkte ihm kaum Beachtung. Sie war zu sehr damit beschäftigt, die neue Umgebung in sich aufzunehmen, die ihr zugleich fremd und vertraut erschien. Die Stadt hatte etwas Nostalgisches, mit ihren kleinen Galerien und Cafés, die warme Lichter in die kalte Dämmerung warfen. Doch es war nicht die Stadt, die sie wirklich anzog.

Nach einem langen Tag in ihrem Atelier hatte sie beschlossen, die Umgebung zu erkunden, in der Hoffnung, etwas Einzigartiges zu finden, das ihre Inspiration entfachte. Ihre Schritte führten sie hinaus aus der Stadt, auf einen schmalen Pfad, der sich durch den Wald schlängelte. Der Duft von feuchtem Laub und Erde stieg ihr in die Nase, während das leise Rauschen eines Flusses in der Ferne erklang.

Und dann sah sie es.

Das Anwesen erhob sich vor ihr wie eine düstere Festung, halb verborgen hinter den dichten Bäumen, die wie stumme Wächter darum herumstanden. Sophia spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte, nicht aus Angst, sondern aus einer unbestimmten Faszination. Etwas an diesem Ort schien sie zu rufen, wie eine unausgesprochene Einladung in eine andere Welt.

Je näher sie trat, desto stärker wurde das Gefühl, dass dieser Ort etwas zu erzählen hatte – eine Geschichte, die nur darauf wartete, entdeckt zu werden. Der verwilderte Garten, der das Anwesen umgab, zog sie magisch an. Die Büsche und Ranken, die sich über die ehemals geordneten Wegen ausgebreitet hatten, schufen eine wilde Schönheit, die sie nicht ignorieren konnte. Sie ließ ihren Blick über die zerfallenen Pavillons und die dunklen Schatten der Skulpturen gleiten.

Sophia griff nach ihrem Skizzenblock, der immer in ihrer Tasche steckte. Sie setzte sich auf einen Stein, der von Moos überwuchert war, und begann zu zeichnen. Ihre Finger bewegten sich schnell und sicher, fingen die Linien und Formen des Gartens ein, die sie so sehr faszinierten. Mit jedem Strich spürte sie eine Verbindung, als ob sie etwas einfangen würde, was nicht nur mit den Augen zu sehen war.

Die Dunkelheit senkte sich wie ein sanfter Schleier über die Szene, und die Welt verlor ihre Farben, bis nur noch Grautöne blieben. Sophia bemerkte nicht, wie die Kälte langsam an ihren Fingern nagte. Erst als die ersten Sterne am Himmel erschienen, schaute sie auf und packte ihre Sachen zusammen. Auf einem der verwilderten Pfade verlor sie unbeabsichtigt eine ihrer Skizzen. Der Wind erfasste sie und trug sie zwischen die Ranken des Gartens, wo sie sich in den Dornen verfing.

Sophia bemerkte es nicht, als sie schließlich den Weg zurück in die Stadt fand. Doch die Skizze blieb zurück, einsam im Schatten des Anwesens, bereit, entdeckt zu werden.

***

Später in der Nacht, als der Regen aufgehört hatte und die Welt in eine seltsame Stille gehüllt war, trat Konstantin hinaus in den Garten. Der kalte Wind brachte den Duft von nasser Erde mit sich, und das Rascheln der Blätter schien wie ein Echo seiner Gedanken. Lange hatte er den Garten gemieden, doch heute Nacht zog ihn etwas hinaus.

Seine Schritte führten ihn zu der Skulptur, die halb verborgen zwischen den Ranken stand. Die steinerne Figur schien ihn anzusehen, ein stiller Zeuge seiner Vergangenheit. Als er sich umwandte, bemerkte er etwas auf dem Boden. Ein Stück Papier, das sich in den Dornen verfangen hatte. Neugierig hob er es auf und hielt es gegen das fahle Licht des Mondes.

Es war eine Skizze.

Die Linien waren weich, aber zielgerichtet, als hätten sie die Seele des Gartens eingefangen, den Konstantin selbst kaum noch wahrnahm. Das Bild zeigte die Skulptur und das Chaos der Natur um sie herum, doch es war mehr als eine Abbildung. Es war ein Fenster in eine andere Perspektive, ein Blick auf etwas, das er vergessen hatte.

Konstantin spürte, wie sich etwas in ihm regte – ein Hauch von etwas, das er nicht benennen konnte, das jedoch eine Saite in ihm anschlug, die seit Jahren verstummt war. Seine Finger schlossen sich fester um die Skizze, während er gleichzeitig von einem tiefen Unbehagen erfasst wurde. Wer war in seinem Garten gewesen?

Mit der Skizze in der Hand kehrte er zurück ins Anwesen. Doch die Leere des Hauses fühlte sich plötzlich noch bedrückender an. Konstantin wusste, dass diese Begegnung – wenn auch indirekt – etwas in Bewegung gesetzt hatte. Etwas, das zu lange in ihm verborgen gelegen hatte.

Im Schatten der Vergangenheit begann ein leises Flüstern, das ihn nicht mehr loslassen würde.