Kapitel 2 — Die Stimme der Stille
Konstantin
Der Morgen brach still und grau über Konstantins Anwesen herein, als der Nebel sich wie ein schwerer Mantel über den verwilderten Garten legte. Der Regen der letzten Nacht hatte die Welt in kühle Feuchtigkeit gehüllt, und die Luft roch nach nasser Erde und verwesendem Laub. Konstantin stand reglos am großen Fenster seines Arbeitszimmers, die Skizze immer noch in seiner Hand. Er konnte sich nicht von ihr trennen, obwohl er die ganze Nacht mit sich gerungen hatte. Die feinen Bleistiftlinien schienen eine Leichtigkeit zu tragen, die ihm fremd geworden war, und in jeder Linie lag ein Hauch von Leben, den er selbst nicht mehr wahrnahm.
Diese fremde, irritierende Lebendigkeit lastete schwer auf ihm. Es war nicht nur der Umstand, dass jemand seinen Garten betreten hatte – ein Ort, den er als Teil seiner Isolation betrachtete, als Grenze zwischen sich und der Außenwelt. Es war die Tatsache, dass dieser Jemand inmitten des Chaos etwas Anmutiges gesehen und festgehalten hatte. Sein Blick wanderte von der Skizze zu der Skulptur draußen im Garten, die nun im klammen Licht des Morgens noch trostloser wirkte, eine kalte Erinnerung an das, was er verloren hatte.
„Herr Stein?“
Elias’ Stimme durchbrach die Stille und riss Konstantin aus seiner Versunkenheit. Langsam drehte er sich um und sah den Haushälter im Türrahmen stehen. Elias hielt eine Tasse Kaffee in der Hand und stellte sie mit einer stillen Selbstverständlichkeit auf den Tisch. Seine Bewegungen hatten eine Ruhe, die Konstantin irritierte.
„Haben Sie die Nacht durchgearbeitet?“ fragte Elias ruhig, während er Konstantins Gesicht prüfend musterte.
„Nein“, erwiderte Konstantin knapp und legte die Skizze auf den Tisch, als wäre sie zu schwer, um sie länger festzuhalten. „Ich habe nachgedacht.“
Elias’ Blick glitt zu dem Papier, das halb unter einem Buch lag. Für einen Moment sagte er nichts, aber Konstantin konnte spüren, wie seine Gedanken arbeiteten.
„Eine interessante Arbeit“, sagte Elias schließlich, beinahe beiläufig. „Hat etwas Zeitloses, finden Sie nicht?“
Ein Muskel in Konstantins Kiefer zuckte. Er wollte die Bemerkung ignorieren, doch etwas in ihr nagte an ihm. Schließlich seufzte er leise und ließ sich in den Sessel hinter seinem Schreibtisch fallen.
„Finde heraus, wer das war“, sagte er nach einer langen Pause, ohne Elias direkt anzusehen. Seine Stimme war ruhig, aber fest – mehr Befehl als Bitte.
Elias hob eine Augenbraue. Es war eine subtile Geste, die jedoch seine Gedanken zu verraten schien. „Natürlich. Ich werde sehen, was ich tun kann“, antwortete er schlicht und verließ den Raum mit einem leichten Nicken.
***
Der Tag zog in einer seltsamen Mischung aus Warten und Unruhe vorüber. Konstantin versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, doch seine Gedanken drifteten immer wieder ab. Die Skizze lag auf seinem Schreibtisch wie ein stiller Vorwurf. Es war nicht nur die Frage, wer sie angefertigt hatte – es war die Art, wie diese Person die Welt sah. Wie konnte jemand in diesem verwilderten, trostlosen Garten etwas finden, das es wert war, festgehalten zu werden?
Er konnte nicht leugnen, dass die Skizze etwas in ihm geöffnet hatte. Etwas, das er lieber verschlossen gehalten hätte. Erinnerungen an seine Frau schlichen sich in seine Gedanken, an die Zeit, als der Garten noch blühte und Licht durch die Bäume gefiltert wurde. Sie hatte die Beete selbst gepflegt, mit einer Hingabe, die ihn oft zum Lächeln gebracht hatte. Doch dieses Lächeln war längst verblasst, begraben unter der Last seiner Schuld.
Am Nachmittag, als die Wolken aufzubrechen begannen und das fahle Licht der Sonne die kahlen Äste in ein gedämpftes Gold tauchte, kehrte Elias zurück. Er fand Konstantin im Salon, wo dieser, wie so oft, allein saß, den Kopf gegen die Rückenlehne des Sessels geneigt und die Augen geschlossen.
„Es war eine junge Frau, eine Künstlerin“, sagte Elias, als er vor Konstantin stehen blieb.
Konstantins Augen öffneten sich träge, seine grauen Iriden fixierten Elias wie ein Raubtier, das einen unerwarteten Laut wahrgenommen hatte.
„Eine Künstlerin?“ wiederholte er langsam.
Elias nickte. „Ihr Name ist Sophia Berg. Sie lebt erst seit kurzem in der Stadt, scheint aber bereits einen gewissen Eindruck hinterlassen zu haben. Man nennt sie talentiert und... ungewöhnlich.“
Ungewöhnlich. Das Wort hing in der Luft, bevor Konstantin es mit einem leisen Schnauben zur Seite wischte.
„Was wollte sie in meinem Garten?“ fragte er schließlich, seine Stimme ein wenig schärfer als beabsichtigt.
„Ich glaube nicht, dass sie etwas wollte“, antwortete Elias, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. „Vielleicht war es die Wildheit, die sie angezogen hat. Künstler haben ein Auge für Dinge, die andere übersehen.“
Konstantin schwieg. Er spürte, wie Elias’ Worte bei ihm ankamen, wie sie eine Neugier in ihm weckten, die er nicht zulassen wollte. Ein Teil von ihm wollte diese Frau sofort aus seinem Leben verbannen, alles, was sie repräsentierte, leugnen. Doch ein anderer Teil, ein kaum wahrnehmbarer, seltsam beharrlicher Teil, wollte mehr wissen.
„Und was jetzt?“ fragte Elias schließlich, als die Stille zu drückend wurde.
„Nichts“, sagte Konstantin knapp. „Ich will nichts weiter mit ihr zu tun haben.“
Doch die Worte klangen hohl, selbst für ihn.
***
Sophia kehrte am frühen Abend zurück zu dem Pfad, der sie bereits am Vortag zu Konstantins Anwesen geführt hatte. Der Tag in ihrem Atelier war unbefriedigend gewesen – nichts von dem, was sie gemalt hatte, konnte die Eindrücke einfangen, die sie aus dem Garten mitgenommen hatte.
In ihrer Tasche trug sie nicht nur ihren Skizzenblock, sondern auch eine kleine Auswahl an Pastellkreiden. Der Abend war kalt, und die Schatten der Bäume schienen sich zu verdichten, als sie das Anwesen erreichte. Doch Sophia empfand keine Angst. Im Gegenteil, es war, als habe der Ort sie gerufen.
Sie suchte sich eine Stelle in der Nähe der Skulptur, die sie am Vortag gezeichnet hatte, und begann zu arbeiten. Ihre Hände bewegten sich schnell und sicher, während sie die Farben des Gartens einfing – das gedämpfte Grün des Mooses, das Grau der Steine, das fahle Licht, das durch die Äste fiel. Immer wieder hielt sie inne, um den Garten zu betrachten, als versuche sie, eine verborgene Sprache zu entschlüsseln.
Unbemerkt von ihr stand Konstantin an einem der großen Fenster des Anwesens und beobachtete sie. Es war, als würde ihre Präsenz eine Lücke in seiner Welt aufbrechen, eine Lücke, die er nicht schließen konnte. Ihre Bewegungen waren voller Konzentration, fast wie eine stille Choreographie, und in ihrem Gesicht lag ein Ausdruck der Ruhe, den er nicht verstand.
Ein Drang stieg in ihm auf, hinauszugehen und sich ihr zu nähern. Doch ebenso schnell kam die vertraute Kälte der Angst, die ihm die Kehle zuschnürte. Nähe bedeutete Schmerz. Nähe bedeutete Verlust.
Sophia beendete ihre Zeichnung und trat einen Schritt zurück, um sie zu betrachten. Ein schwaches Lächeln spielte auf ihren Lippen, und in ihrem Blick lag eine Zufriedenheit, die Konstantin gleichzeitig faszinierte und irritierte. Dann packte sie ihre Sachen zusammen und verschwand im Schatten des Waldes, ohne zu ahnen, dass sie beobachtet worden war.
Konstantin blieb am Fenster zurück. Die Skizze auf seinem Schreibtisch erschien ihm nun wie eine offene Wunde, ein schmerzhaftes Fenster zu einer Welt, die er nicht betreten wollte.
Die Stimme der Stille hatte begonnen, zu sprechen – und Konstantin wusste, dass er ihr nicht entkommen konnte.