reader.chapter — Der Verlust der Beweise
Kati
Die Dämmerung über Berlin war grau und schwer, als Katharina „Kati“ Hoffmann das Gerichtshaus betrat. Die langen Schatten der vom Regen glänzenden Säulen warfen ein düsteres Echo durch die Eingangshalle, die so steril wie ein Operationssaal wirkte. Alles hier war vertraut, doch heute fühlte es sich an, als würde etwas in der Luft lauern – eine unsichtbare, drückende Präsenz, die sich nicht abschütteln ließ. Kati zog ihren Mantel enger um sich und ließ die Blicke der wenigen Kollegen, die noch da waren, an sich abprallen.
Der heutige Tag hatte ihr bereits genug abverlangt. Das Treffen mit Dr. Ilse Berger war gekommen und gegangen, und obwohl ihre Mentorin wie immer ruhig und weise gewirkt hatte, war heute etwas anders gewesen. Ihre Worte waren sachlich, aber mit einer Schärfe, die Kati nicht einordnen konnte. Noch irritierender war das Flackern in Dr. Bergers Augen gewesen, als sie zum wiederholten Mal über die Risiken von Katis Ermittlungen sprach. Es war kein bloßes Unbehagen gewesen – es war fast so, als hätte Berger etwas zu verbergen.
„Kati, du bist auf dem richtigen Weg“, hatte Dr. Berger gesagt, während sie ihre Tasse Kaffee abgestellt hatte. „Aber du wirst Feinde wecken, die nicht nur mit juristischen Mitteln arbeiten. Sei wachsam, verstehst du?“
Kati nickte, doch eine Frage lag ihr auf der Zunge. „Und was, wenn die Feinde... überall sind? Selbst hier?“
Dr. Berger zögerte, das Porzellan ihrer Tasse kurz zwischen den Fingern drehend. Dann lächelte sie, aber es wirkte angestrengt. „In Zeiten wie diesen... ist es am klügsten, niemandem blind zu vertrauen.“
Diese Worte hallten immer noch in Katis Kopf wider, während sie die Gänge zu ihrem Büro entlangging. Der Geruch von Papier, Aktenordnern und kaltem Kaffee hing in der Luft – ein vertrauter Trost inmitten ihrer aufwühlenden Gedanken. Doch heute schien etwas nicht zu stimmen. Die Stille war dicht, fast bedrohlich. Als wären die Schatten in den Ecken lebendig geworden.
Kati öffnete die Tür zu ihrem Büro und blieb abrupt stehen. Ihr Schreibtisch, der noch vor Stunden mit Beweisen – Ordnern, USB-Sticks, Notizen – übersät gewesen war, lag beinahe leer da. Nur die Lampe und ein paar verstreute Stifte blieben zurück. Ein Hauch von kaltem Schweiß brach auf ihrer Stirn aus. Sie schloss die Tür hinter sich, trat langsam vor und ließ ihren Blick über die kahlen Oberflächen schweifen.
Die Ordner. Die USB-Sticks. Alles war weg.
„Nein...“, murmelte sie und stürzte zu ihrem Schreibtisch. Sie riss die Schubladen auf, doch auch die waren leer. Ihre Hände zitterten, als sie den Computer einschaltete. Der Bildschirm flackerte kurz auf, und sie gab hastig ihr Passwort ein. Nichts. Die verschlüsselten Dateien, die sie über Wochen mühsam zusammengestellt hatte, waren verschwunden. Es war, als hätte sie nie existiert.
Kati sank in ihren Stuhl und starrte auf den dunklen Bildschirm. Ihr Kopf schwirrte, die Schwere in ihrer Brust wuchs mit jeder Sekunde. Jemand hatte sie ausmanövriert – mit präziser, gefühlloser Effizienz.
Ein metallisches Klopfen an der Tür riss sie aus ihrer Starre. „Hoffmann?“
Jens Meier, ihr Kollege und einer der wenigen, denen sie vertraute, stand im Türrahmen. Er hatte die Stirn gerunzelt, seine Aktentasche locker in der Hand. „Hast du kurz Zeit?“
„Jens“, begann sie zögernd und versuchte, ihre Stimme zu kontrollieren, „etwas ist passiert. Meine Beweise... sie sind weg. Alle.“
Seine Augen weiteten sich, und er trat ein, schloss die Tür hinter sich. „Was meinst du mit ‚weg‘?“
„Ich meine, jemand hat sich Zugang verschafft. Die physischen Unterlagen sind verschwunden, und meine Dateien wurden gelöscht.“ Ihre Stimme zitterte vor Wut und Panik. „Ich habe alles doppelt abgesichert. Das ist unmöglich.“
Jens blieb still, sein Blick wanderte durch den Raum. Dann ging er zu ihrem Computer und inspizierte den Bildschirm. Er wirkte angespannt, aber gefasst. „Hast du irgendjemandem Zugang gegeben? Einen externen Dienst oder einen Techniker beauftragt?“
„Natürlich nicht“, schnappte Kati. „Das hier ist kein Amateur-Spiel. Das war präzise. Jemand hat mich ins Visier genommen.“
Gerade als Jens den Mund öffnete, um etwas zu erwidern, summte Katis Handy auf dem Schreibtisch. Der Name „Interne Revision“ leuchtete auf. Ein Schauer durchfuhr sie, und sie griff zögernd nach dem Gerät.
„Hoffmann“, meldete sie sich, bemüht, die Panik aus ihrer Stimme zu verbannen.
„Frau Hoffmann“, sagte eine monotone, unpersönliche Stimme am anderen Ende, „ich rufe Sie an, um Sie über eine interne Untersuchung zu informieren. Auf Ihrem Konto sind in den letzten 48 Stunden mehrere unerklärliche Geldbeträge eingegangen. Sie wurden vorläufig suspendiert, bis der Fall geklärt ist.“
Kati erstarrte. „Was...? Nein, das ist ein Fehler. Ich habe keine...“
„Die Details wurden an die zuständige Stelle weitergeleitet. Sie werden in Kürze kontaktiert. Einen guten Abend noch.“ Die Verbindung wurde unterbrochen.
Kati ließ das Telefon sinken, ihre Gedanken ein chaotisches Durcheinander. Jens trat näher. „Was ist passiert?“
„Sie haben... sie haben Geld auf mein Konto überwiesen. Tausende Euro. Und jetzt werde ich suspendiert.“ Ihre Stimme brach. „Das ist ein Komplott. Sie haben mich reingelegt.“
„Wer sind ‚sie‘?“ fragte Jens leise, seine Stirn in Falten gelegt.
Kati schwieg. Ihre Gedanken rasten, und die Antwort war so offensichtlich, dass sie fast wehtat. „Der Falk-Clan“, sagte sie schließlich, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Ihre Worte waren mehr eine Vermutung als eine Gewissheit, doch sie fühlten sich wahr an. „Wer sonst hat die Mittel, so etwas durchzuziehen?“
Jens setzte sich auf die Kante ihres Schreibtischs, ließ die Aktentasche zu Boden gleiten. „Kati, das ist ernst. Wenn sie dich so in die Enge treiben, haben sie mehr vor, als nur deine Ermittlungen zu stoppen.“
„Das ist mir klar“, entgegnete sie scharf. „Aber ich werde nicht kampflos aufgeben. Ich muss herausfinden, wie sie das geschafft haben. Und ich brauche...“
Bevor sie ihren Satz beenden konnte, klingelte erneut ihr Handy. Diesmal war es eine unbekannte Nummer.
Zögernd nahm sie ab. „Hoffmann.“
Eine tiefe, vertraute Stimme, ruhig und kontrolliert, erfüllte ihre Ohren. „Frau Hoffmann. Ich hoffe, ich störe nicht.“
Ihr Atem stockte. Sie erkannte die Stimme sofort, auch wenn sie ihn noch nie persönlich getroffen hatte. Es war Leon Falk.
„Was wollen Sie?“ Ihre Stimme war jetzt kalt, ihre Finger krampften sich um das Telefon.
„Ich wollte nur sehen, wie es Ihnen geht“, antwortete er mit einem Hauch von Spott. „Es scheint, als hätten Sie einen schwierigen Abend.“
Kati konnte das leise Lächeln in seiner Stimme fast sehen. „Hören Sie, Falk, ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber ich werde Sie zur Rechenschaft ziehen. Egal, was Sie tun, ich gebe nicht auf.“
„Das bewundere ich an Ihnen“, sagte er. „Ihre Entschlossenheit. Aber vielleicht sollten wir uns treffen. Es gibt da etwas, das Sie erfahren sollten.“
„Ich werde mich sicher nicht mit Ihnen treffen“, fauchte sie, ihre Wut übermannte für einen Moment die Panik.
„Wie Sie meinen.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er hinzufügte: „Aber denken Sie daran, Frau Hoffmann – in meiner Welt sind die Dinge selten so, wie sie scheinen. Ich hoffe, Sie wissen, wem Sie vertrauen können.“
Die Leitung wurde unterbrochen, bevor Kati antworten konnte. Sie starrte auf das Telefon, ihre Gedanken ein Sturm aus Angst, Wut und brennendem Misstrauen.
„Wer war das?“ fragte Jens besorgt.
Kati legte das Telefon auf den Schreibtisch und atmete tief durch. Ihre Entscheidung stand fest. „Leon Falk.“
Jens‘ Augen verengten sich. „Willst du mit ihm reden?“
„Ich habe keine Wahl“, sagte sie leise. „Wenn ich die Wahrheit herausfinden will, muss ich wissen, was er weiß. Aber ich werde nicht seine Marionette sein.“
„Kati...“ Jens‘ Stimme war voller Sorge, aber sie unterbrach ihn mit einem Blick.
„Ich muss das tun, Jens. Egal, was passiert, ich werde das hier aufdecken. Und ich werde mich nicht brechen lassen.“
Trotz der kalten Angst, die in ihrer Brust nagte, spürte Kati, wie sich ein Funken Entschlossenheit in ihr entzündete. Sie hatte vielleicht alles verloren, aber sie würde nicht aufgeben. Noch nicht.