reader.chapter — Schatten der Unterwelt
Leon
Die Nacht hatte sich über Berlin gelegt wie ein schwerer, undurchdringlicher Schleier, und die Lichter der Stadt spiegelten sich in den regennassen Straßen, während Leon Falk in seiner Bibliothek saß. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, die Glut flackerte schwach, ein Echo der Hitze, die vor Stunden noch den Raum gewärmt hatte. Doch Leon war nie jemand gewesen, der die Kälte fürchtete.
Vor ihm lag ein Glas Whisky auf einem kleinen Tisch, das bernsteinfarbene Licht der Flammen tanzte in der Flüssigkeit. Seine durchdringenden grauen Augen ruhten auf den Dokumenten, die Viktor ihm vor Minuten auf das dunkle Eichenholzdeck gelegt hatte. Berichte über Katharina Hoffmann, ihre Ermittlung, ihre Methode, ihr Ziel. Die Frau, die glaubte, ihn zu Fall bringen zu können.
„Sie ist keine Bedrohung“, sagte Viktor scharf und brach die Stille. Er stand vor dem Fenster, die Hände in die Taschen seines maßgeschneiderten, dunkelgrauen Anzugs vergraben, sein Blick auf die regnerische Nacht gerichtet. „Wir sollten sie ausschalten, bevor sie uns gefährlich wird. Sie wagt es, sich mit dir anzulegen, Leon. Das ist ein Affront.“
Leon lehnte sich zurück, die Finger falteten sich vor seinem Gesicht, während er Viktor musterte. Sein jüngerer Bruder, ungeduldig, impulsiv, immer auf Konfrontation bedacht, war ein Spiegel dessen, was Leon niemals sein wollte. Viktor war stark, ja, aber Stärke ohne Kontrolle war eine Schwäche, die Leon verabscheute.
„Du denkst zu kurzsichtig, Viktor“, erwiderte Leon schließlich mit seiner ruhigen, tiefen Stimme, die wie ein leises Grollen durch den Raum rollte. „Wenn wir sie beseitigen, wird es auffallen. Sie ist nicht einfach irgendjemand. Eine Staatsanwältin verschwindet nicht spurlos, ohne dass jemand Fragen stellt. Und Fragen sind das Letzte, was wir uns leisten können.“
Viktor drehte sich um, sein Blick war herausfordernd, doch die Anspannung in seiner Haltung verriet seinen inneren Widerstand. Seine Fäuste hatten sich in den Taschen seines Anzugs geballt, und seine Kiefermuskeln arbeiteten. „Wir könnten es wie einen Unfall aussehen lassen. Oder jemanden anderen dafür verantwortlich machen. Es gibt immer Möglichkeiten, wenn man bereit ist, sie zu sehen.“
Leon stand auf, sein voller, einschüchternder Körperbau füllte den Raum mit seiner Präsenz. Er ging langsam zum Fenster, sein Blick folgte den Regentropfen, die in stillen Bahnen über die Scheibe glitten.
„Hör auf, wie ein Schläger aus der Gosse zu denken“, sagte er kühl. „Diese Frau ist mehr als nur eine Staatsanwältin. Sie ist klug, entschlossen. Ein Problem, ja, aber auch eine Gelegenheit.“
„Eine Gelegenheit?“ Viktor lachte hart. Seine Hände lösten sich aus den Taschen, und er trat einen Schritt vor, seine Ungeduld nun offen zur Schau stellend. „Sie versucht, unsere Welt zu zerstören. Wie kann das eine Gelegenheit sein?“
Leon drehte sich zu ihm um, und in seinen Augen lag etwas, das Viktor innehalten ließ. Es war keine Wut, nicht einmal Zorn. Es war ein scharfer, schneidender Intellekt, der jede Bewegung und jedes Wort seines Bruders im Voraus durchschaut hatte.
„Weil sie anders ist“, sagte Leon leise. „Weil sie glaubt, dass sie das System reparieren kann, ohne selbst korrumpiert zu werden. Glaubst du nicht, dass das faszinierend ist? Eine Frau, die an etwas glaubt, das längst tot ist.“
Viktors Stirn legte sich in tiefe Falten, und seine Lippen verzogen sich zu einem missbilligenden Ausdruck, doch er wusste, dass Widerspruch zwecklos war. „Also willst du sie beobachten? Statt zu handeln?“
„Ich werde sie studieren“, korrigierte Leon, seine Stimme wurde noch leiser, aber nicht weniger intensiv. „Herausfinden, was sie antreibt. Ihre Schwächen. Ihre Grenzen. Und dann werde ich entscheiden, wie wir mit ihr umgehen. Aber bis dahin hältst du dich zurück. Keine überstürzten Aktionen. Verstanden?“
Die Stille zwischen ihnen war schwer, doch schließlich nickte Viktor widerwillig. „Wie du willst.“
Leon ließ seine grauen Augen noch einen Moment auf Viktor ruhen, dann wandte er sich ab und griff nach seinem Glas Whisky. Er nahm einen kleinen Schluck, ließ die Flüssigkeit über seinen Gaumen gleiten, bevor er sprach.
„Das war alles, Viktor. Du kannst gehen.“
Viktor zögerte einen Moment, seine Kiefermuskeln arbeiteten erneut, doch dann nickte er erneut und schritt zur Tür. Bevor er sie öffnete, hielt er inne. „Ich hoffe, du weißt, was du tust, Leon.“
Leon antwortete nicht. Die Tür fiel leise ins Schloss, und er war wieder allein.
Er stellte das Glas zurück auf den Tisch und nahm die Dokumente über Hoffmann erneut in die Hand. Ihr Bild starrte ihm entgegen – ein Gesicht, das von Entschlossenheit geprägt war, die blauen Augen leuchteten förmlich vor Idealismus.
„Mal sehen, wie stark du wirklich bist“, murmelte er, ein kaltes Lächeln schlich sich auf seine Lippen.
**
Später in dieser Nacht saß Leon in seinem schwarzen Wagen, der vor einem unscheinbaren Gebäude parkte. Die Fenster waren dunkel getönt, und kein Licht drang aus dem Inneren des Wagens. Von hier aus hatte er einen perfekten Blick auf den Eingang des Gerichtshauses, das nun fast menschenleer war.
Seine grauen Augen musterten die Szene, während die Scheibenwischer langsam die Tropfen von der Frontscheibe strichen. Er hatte beschlossen, selbst zu sehen, was an dieser Frau so besonders war, was sie dazu trieb, gegen ihn vorzugehen.
Kati Hoffmann trat aus dem Gebäude, ihren Mantel fest um sich gezogen, den Kopf leicht gesenkt. Ihre Bewegungen waren schnell, aber nicht überstürzt, als ob sie sich ihrer Umgebung bewusst war, ohne sich von ihr einschüchtern zu lassen.
Leon beobachtete sie regungslos, seine Augen folgten jeder ihrer Bewegungen. Eine Gegnerin, das war klar, aber sie hatte etwas an sich, das ihn faszinierte. Vielleicht war es ihre Unbeugsamkeit, vielleicht war es etwas Tieferes, das er noch nicht ganz einordnen konnte.
Ein Schatten bewegte sich in der Entfernung, und Leon bemerkte ihn sofort. Ein Mann, groß und breit, folgte Hoffmann in einigem Abstand. Leon runzelte die Stirn. Das war nicht einer seiner Leute – er hatte klare Anweisungen gegeben, sie nicht zu stören.
Die Anspannung in seinem Körper verstärkte sich, sein Blick schärfte sich. Der Mann hielt sich zu dicht an ihrer Spur, zu gezielt.
Er griff nach seinem Telefon und wählte eine Nummer. Nach einem kurzen Klingeln hob am anderen Ende jemand ab.
„Ich will wissen, wer dieser Mann ist“, sagte er leise, doch seine Stimme war eine Klinge, die sich durch die Stille schnitt. „Sofort.“
Er legte auf, ohne auf eine Antwort zu warten, und konzentrierte sich wieder auf die Szene vor ihm. Hoffmann hatte den Parkplatz erreicht und stieg in ihr Auto. Der Mann hielt inne, beobachtete sie einen Moment, bevor er in die Dunkelheit verschwand.
Leon lehnte sich zurück, seine Gedanken rasten. Wer auch immer dieser Mann war, er hatte ihre Spur aufgenommen. Und Leon mochte es nicht, wenn jemand in seinem Spiel ungesehen Figuren auf das Brett setzte.
„Interessant“, murmelte er, als sich Hoffmanns Wagen in die Nacht entfernte. „Das Spiel beginnt.“
Er startete den Motor und fuhr in die Nacht hinaus, seine grauen Augen glitzerten vor Kalkül und Vorfreude.