Kapitel 1 — Der Zusammenbruch der Melodie
Lilian Weiß
Die Welt um sie herum war ein einziges Flüstern. Der riesige Konzertsaal der Münchner Philharmonie, gefüllt mit Menschen in feiner Abendgarderobe, schien zu atmen – ein sanftes, kollektives Warten auf den Moment, in dem Lilian Weiß ihre Geige an die Schulter hob. Der goldene Schein der Kronleuchter spiegelte sich auf den polierten Oberflächen der Instrumente des Orchesters und tanzte wie flüchtige Glut über die Zuschauerreihen. Die gewaltige Akustik des Saals, so perfekt geformt, dass das leiseste Rascheln eines Kleides ein Echo fand, verstärkte die Spannung, die im Raum lag.
Sie spürte die Blicke des Publikums wie eine Welle von Erwartung, die mit jeder Sekunde, die sie zögerte, größer wurde. Ihre Kehle war trocken, und der vertraute Druck in ihrer Brust kehrte zurück – eine altbekannte Last, die sie oft vor Auftritten spürte. Doch heute war es anders. Schwerer. Erdrückender.
Mit zitternden Fingern schloss sie die Augen und hob die Geige an. Ein leises Ausatmen ging durch den Raum, als der erste Ton erklang. Wie flüssiges Gold schwebte die Musik durch die Luft, und Lilian verlor sich für einen Moment in der Melodie, die sie so oft geprobt hatte, dass sie sie im Schlaf hätte spielen können. Die vertrauten Töne der Partitur von Mendelssohn umhüllten sie wie ein Schutzmantel.
Doch da war etwas. Ein leises Summen, tief unter den Noten verborgen, das nur sie hören konnte. Es war ein dunkles, vibrierendes Brummen, als würde ein ferner Donner durch die Luft rollen – zunächst kaum wahrnehmbar, doch es wuchs. Es kroch wie ein Schatten durch die Melodie, ungebeten und unheilvoll. Ihr Atem stockte, und für einen Sekundenbruchteil verweilten ihre Finger auf den Saiten. Keine falsche Note. Aber der Raum fühlte sich plötzlich enger an, stickiger, als würde die Luft um sie herum verschwinden.
"Lilian," mahnte eine Stimme in ihrem Inneren, "nicht jetzt."
Sie zwang sich, weiterzuspielen, ihre Finger gehorchten mit der Präzision einer Maschine. Doch das Summen ließ sich nicht ignorieren. Es war lauter geworden, eine fremdartige Melodie, die sich wie ein unsichtbarer Faden um ihre Musik wand. Ihr Herz begann wild zu schlagen, und sie öffnete die Augen.
Über den Köpfen des Publikums begann der Saal zu verschwimmen, als hätte eine unsichtbare Hand einen Schleier aus grauem Nebel über die Szene gelegt. Auf ihren Armen prickelte eine unheimliche Kälte, und plötzlich schien das Licht der Kronleuchter zu verblassen. Ihre Hände begannen zu zittern, der Bogen rutschte, und die Geige krächzte einen falschen Ton. Ein schneidender Stich durchfuhr sie, als das Publikum leise zu murmeln begann.
Ihre Augen weiteten sich, als sie eine Vision erblickte – so klar und lebendig, dass sie den Raum um sich vollständig vergaß. Zwei glühende, rote Augen starrten sie an, eingebettet in Schatten, die sich wie Rauch durch die Luft zogen. Sie waren nicht nur furchteinflößend – sie waren vertraut. Es war, als hätten diese Augen sie ihr Leben lang beobachtet, als hätten sie auf genau diesen Moment gewartet.
Die Melodie entglitt ihr vollständig. Das Orchester hielt abrupt inne, ein Crescendo, das in einen peinlichen, klaffenden Abgrund fiel. Die Stille im Raum war schwer wie Blei. Lilian stand da, die Geige in der einen, den Bogen in der anderen Hand, und versuchte, ihre zitternden Knie zu beherrschen. Doch die Augen blieben, zogen sie tiefer in eine Dunkelheit, gegen die sie sich nicht wehren konnte.
"Lilian!" Der Dirigent rief ihren Namen, doch seine Stimme schien von weit her zu kommen, als wäre sie unter Wasser. Die Luft um sie herum wurde dünner, der Raum drehte sich. Ihre Brust zog sich zusammen, ihr Atem ging flach, und ein Schwindel erfasste sie.
Dann brach sie zusammen.
Ein Aufschrei ging durch das Publikum. Menschen sprangen auf, ihre Gesichter verzerrt vor Entsetzen. Sie hörte gedämpfte Stimmen, das Klirren von umgestoßenen Programmen und Schritte, die auf dem glänzenden Holzboden des Podiums hallten. Eine Hand berührte ihre Schulter, doch sie konnte nicht sagen, wem sie gehörte. Ihr Bewusstsein zerbrach in ein Kaleidoskop aus Farben und Klängen, aus Schmerz und Angst.
Die roten Augen verschwanden, doch die Dunkelheit blieb.
Sie erwachte in einer Welt aus gedämpftem Licht. Die Decke über ihr war hoch, verziert mit goldenen Ornamenten – sie war immer noch in der Philharmonie, hinter der Bühne, in einem der Umkleideräume. Der vertraute Geruch von Staub, altem Holz und einem fremden Parfüm lag in der Luft.
"Lilian, kannst du mich hören?" Die Stimme des Dirigenten schnitt durch die Stille wie ein scharfes Messer. Er beugte sich über sie, seine Augen voller Sorge, seine Stirn in Falten gelegt.
Sie nickte schwach und versuchte, sich aufzusetzen, doch ihr Kopf pochte, und ihre Gedanken waren ein wirres Durcheinander. "Was... was ist passiert?" Ihre eigene Stimme klang fremd, als gehöre sie jemand anderem.
"Du bist mitten im Stück zusammengebrochen. Wir haben die Vorstellung beendet. Die Ärzte sind unterwegs."
"Nein!" Panik stieg in ihr auf, heiß und überwältigend. Sie reagierte heftiger, als sie wollte, und ihre Hände krallten sich in die Armlehne des Stuhls, auf dem sie saß. "Mir geht es gut. Ich brauche keine Ärzte."
Er zögerte, sein Blick wanderte über ihr blasses Gesicht, doch schließlich sprach er unbeholfen weiter: "Lilian, das war nicht normal. Du bist immer so... perfektionistisch. Was auch immer das war, du musst es ernst nehmen."
Sie schüttelte den Kopf, mehr, um sich selbst zu beruhigen, als um ihm zu widersprechen. "Es war nur... Stress. Das wird nicht wieder passieren."
Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass das nicht wahr war. Es war nicht nur Stress. Es war etwas anderes gewesen, etwas, das sie nicht erklären konnte.
"Vielleicht solltest du über eine Pause nachdenken," sagte er schließlich, leiser, fast zögerlich, als wüsste er, wie schwer diese Worte sie treffen würden.
Seine Worte hallten in ihrem Kopf nach, scharf und unausweichlich. Eine Pause? Die Musik war alles, was sie hatte. Ohne sie war sie nichts.
Als er den Raum verließ, blieb sie allein zurück. Die Stille umhüllte sie wie ein kalter Mantel. Neben ihr lag ihre Geige, sorgfältig auf den Tisch gelegt. Ihre Finger glitten über das glatte Holz, und ein kurzer Moment der Vertrautheit beruhigte sie. Doch die Kälte in ihrem Inneren blieb.
Mit zitternden Händen hob sie das Instrument an und ließ den Bogen über die Saiten gleiten. Die Melodie, die sie spielte, war leise und zaghaft, ein Versuch, die Dunkelheit zu vertreiben, die sie umgeben hatte. Doch kaum hatte sie die ersten Töne gespielt, war es wieder da – das Summen. Dieses tiefe, vibrierende Brummen, das in ihrem Inneren widerhallte.
Ihre Hände begannen erneut zu zittern. Sie ließ die Geige sinken und starrte sie an, als wäre sie ein Fremdkörper, etwas, das sich gegen sie wandte.
In diesem Moment wusste sie mit erschreckender Klarheit: Etwas war grundlegend falsch. Nicht nur mit ihrer Musik.
Mit ihr.