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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Schattenträume


Lilian Weiß

Die Dunkelheit in ihrem Schlafzimmer fühlte sich an wie eine zweite Haut – kalt, bedrückend, unentrinnbar. Lilian wälzte sich auf ihrem Bett hin und her, die Laken waren längst zu einem unordentlichen Knäuel verheddert. Der Schlaf war ein scheues Tier, das vor ihr zurückwich, je mehr sie ihn suchte. Stattdessen wallten Bilder durch ihren Geist – nebulöse Visionen, so fremd und doch so nah, dass sie sie kaum greifen konnte.

Eine Melodie hallte durch ihre Gedanken, zäh und schwer wie flüssiges Blei. Anfangs war sie sanft, fast verführerisch – ein Flüstern von Trost. Doch mit jedem Takt wuchs sie, gewann an Lautstärke und Schärfe, wurde zu einem unbändigen Sturzbach aus verzerrten Klängen. Wieder erschienen die roten Augen. Sie schwebten über ihr, glimmend wie zwei heiße Kohlen, in einem Schatten, der keinerlei Umrisse hatte. Im Hintergrund lauerte etwas, eine Präsenz, die so schrecklich war, dass allein der Gedanke daran sie erstarren ließ.

Die Melodie zerbarst in einen schrillen, dissonanten Akkord. Lilian schrak hoch. Ihr Atem ging flach, ihre Hände krallten sich in die Decke, als könnte sie sich an der Realität festhalten. Die Stille, die sich um sie legte, war erdrückend und doch nicht leer – als ob sie selbst von der Nacht beobachtet würde.

Sie stieß die Bettdecke zurück und setzte sich auf, ihre Bewegungen schwerfällig, als lastete eine unsichtbare Bürde auf ihr. Der Vollmond warf sein Licht durch die halb geöffneten Vorhänge, und in seinem Schein erschien die Geige auf ihrem Ständer wie ein Fremdkörper – ein Relikt aus einem Leben, das ihr nicht mehr gehörte.

Die Erinnerung an ihre Großmutter blitzte auf, wie ein Fragment aus einer anderen Zeit. Es war die Großmutter gewesen, die ihr die Geige zum ersten Mal in die Hände gelegt hatte – eine sanfte, leise Stimme, die ihr von einer Melodie erzählte, die nur die Auserwählten hören könnten. Damals hatte Lilian das für ein Märchen gehalten, eine jener Geschichten, die Erwachsene sich ausdachten, um Kinder zu bezaubern. Jetzt aber schien es mehr – als ob sich in diesen Worten ein unausweichliches Schicksal verbarg.

Lilian biss sich auf die Unterlippe, ein scharfer Schmerz, der sie zurück in die Gegenwart holte. Sie musste eine Antwort finden. Sie musste diese Albträume, dieses Summen, diese Augen zum Schweigen bringen. Vielleicht, nur vielleicht, würde die Musik ihr helfen, eine Verbindung zu verstehen, die sie noch nicht begreifen konnte.

Mit zögernden Fingern griff sie nach der Geige und dem Bogen. Das Holz fühlte sich fremd an, kalt und feindselig. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und hob das Instrument an ihre Schulter. Der erste Ton, den sie spielte, war rau, ein krächzender Schrei, der die Stille zerriss. Sie korrigierte ihre Haltung, straffte den Rücken und zwang ihre zitternden Hände zur Ruhe.

Es war ein Stück von Bach – vertraut, sicher, ein Anker in den tosenden Wellen ihres Geistes. Doch kaum hatte sie den zweiten Takt erreicht, war es wieder da: das Summen. Es kroch zwischen die Noten, verzerrte die Harmonien, als würden unsichtbare Hände an den Saiten zerren. Die Melodie wurde schwerer, dunkler, und ihre Finger begannen zu zittern, als ob sie gegen eine unsichtbare Kraft ankämpfen müssten.

Der Bogen glitt ab, und ein hässliches Geräusch erfüllte den Raum, ein Kreischen, das sie zusammenzucken ließ. Lilian ließ die Geige sinken und starrte auf ihre Hände, die sich unkontrolliert öffneten und schlossen. Die Panik stieg in ihr hoch, eine brodelnde Woge, die sie zu überwältigen drohte.

"Was passiert nur mit mir?" flüsterte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch.

Ein plötzliches Vibrieren riss sie aus ihrer Starre. Ihr Handy auf dem Nachttisch summte und das Display leuchtete grell in der Dunkelheit auf. Der Name ihres Managers, Herr Stein, blinkte darauf. Lilian runzelte die Stirn. Es war ungewöhnlich, dass er sie zu so früher Stunde kontaktierte.

Mit zögernder Hand nahm sie den Anruf entgegen. "Ja?"

"Frau Weiß, ich wollte Sie nicht stören," begann Stein, seine Stimme sachlich, doch mit einem Unterton, der mehr Sorge als Professionalität verriet. "Nach den Ereignissen gestern Abend habe ich beschlossen, Ihre nächsten Auftritte vorerst abzusagen. Es ist wohl besser, wenn Sie sich eine Auszeit nehmen, um sich zu erholen."

"Erholen?" Lilians Stimme war scharf, ihre Worte wie Klingen. "Ich brauche keine Erholung, Herr Stein. Ich habe lediglich den größten Stress meines Lebens durchgemacht. Das war alles."

"Ich verstehe Ihre Frustration." Seine Antwort kam zögerlich. "Aber die Presse hat bereits von Ihrem Zusammenbruch erfahren. Wenn Sie jetzt weitermachen, könnten wir Ihre Karriere unwiderruflich gefährden."

Ihre Karriere. Das Wort traf sie wie ein Schlag. Ihre Karriere war der einzige Faden, der ihre Welt zusammenhielt. "Die Presse?" wiederholte sie leise, fast tonlos.

"Ja," fuhr Stein fort, seine Stimme jetzt wie ein Hauch durch die Leitung. "Ich sage das nur zu Ihrem Besten, glauben Sie mir. Eine Pause könnte helfen..."

Seine Worte verschwammen, ein Rauschen in ihren Ohren, während ihre Gedanken sie überwältigten. Ihre Finger schlossen sich krampfhaft um das Telefon, und sie spürte die Hitze der unvergossenen Tränen in ihren Augen.

Als der Anruf endete, ließ sie das Handy auf das Bett fallen. Ihre Hände waren feucht, ihre Atmung unregelmäßig. Der Raum wirkte enger, die Luft stickiger. Sie konnte die Geige aus dem Augenwinkel sehen, ein stummer Vorwurf, eine Erinnerung an das, was sie verloren zu haben glaubte.

Sie sank auf die Knie, klammerte sich an das Instrument, das ihr immer ein Anker gewesen war, doch jetzt fühlte es sich wie ein Gewicht an, das sie nach unten zog. Die Dunkelheit in ihrem Inneren schien sich auszubreiten, ein steter Strom aus Verzweiflung und Verlust.

Dann war da ein Geräusch. Leise, kaum mehr als ein Flüstern, doch es ließ sie erstarren. Die Melodie aus ihren Träumen kehrte zurück, diesmal realer, greifbarer, als würde sie durch die Wände des Zimmers sickern. Die Kälte kroch ihre Wirbelsäule hinauf, und ihre Finger schlossen sich fester um die Geige.

Wie in Trance stand sie auf und trat ans Fenster. Der Mond stand hoch über den stillen Straßen, sein Licht gleißend hell, doch es brachte ihr keinen Trost. Die Schatten in ihrem Zimmer schienen sich zu bewegen, als ob sie lebendig wären, und die Melodie verstummte so plötzlich, wie sie begonnen hatte.

In diesem Moment wusste Lilian, dass sie handeln musste. Sie konnte nicht länger warten, nicht länger in der Dunkelheit verharren. Irgendwo gab es Antworten, und sie würde sie finden – koste es, was es wolle.

Ihre Finger fuhren über das glatte Holz der Geige, und sie verspürte eine seltsame Mischung aus Angst und Entschlossenheit. Was auch immer diese Melodie bedeutete, sie würde sich ihr stellen. Mit ihrer Musik. Mit allem, was sie hatte.

Als der erste Schimmer der Morgendämmerung durch die Vorhänge drang, saß Lilian immer noch auf dem Boden. Die Geige ruhte in ihren Armen, und ihre Gedanken tobten wie Sturmwellen. Die roten Augen waren verschwunden, doch sie wusste, dass sie zurückkehren würden.

Und das nächste Mal wäre sie bereit.