Kapitel 3 — Das Erbe der Burg Wolfsheim
Lilian Weiß
Der Brief lag offen auf dem Küchentisch, das Papier leicht vergilbt, die schwarze Tinte vergangener Zeiten würdig. Lilians Finger glitten zögernd über die Worte, die sie bereits mehrmals gelesen hatte, als könnten sie durch Berührung an Bedeutung verlieren. Ein Notar namens Herr Kirchner hatte ihr geschrieben, um sie über das Erbe ihrer verstorbenen Großmutter zu informieren. Die Burg Wolfsheim, ein Name, der wie ein Echo aus einer anderen Welt klang, war nun ihr Besitz. Doch der Brief ließ viele Fragen offen; er erklärte weder das Warum noch das Wie, sondern nur das Was. Die Burg würde auf sie warten – zusammen mit der Vergangenheit, die sie offenbar für Lilian bereit hielt.
Lilian starrte auf die schlichte Adresse am unteren Rand: eine Kanzlei in einem abgelegenen Dorf namens Unterwacht, tief in Bayern. Ihre Gedanken waren ein Wirbel aus Unsicherheit, Faszination und unterschwelliger Angst. Die Burg, diese Burg, hatte sie nie zuvor gesehen, nie zuvor betreten. Und doch war ihr Name wie ein langer, kühler Windzug über ihre Haut gefahren, als hätte sie ihn schon immer gekannt.
Ein flüchtiger Gedanke an ihre Großmutter überkam sie. Sie erinnerte sich an die alten, oft rätselhaften Geschichten, die sie erzählt hatte, und an die melancholische Melodie, die sie manchmal auf einem verstaubten Klavier spielte. Diese Melodie war wie ein leises Wiegenlied, voller Geheimnisse und bittersüßer Trauer. Es war, als hätte sie damals schon etwas gewusst, das Lilian erst jetzt zu erahnen begann. Die Albträume der vergangenen Nächte hatten nicht aufgehört, sondern sich intensiviert. Die schattenhaften Augen, die sie in der Dunkelheit ihrer Träume fixierten, waren allgegenwärtig. Die bedrückende Melodie, die sie nicht abschütteln konnte, schien wie ein unsichtbarer Faden mit dem Namen Wolfsheim verbunden zu sein. Es war, als ob die Zeit selbst sie leise, aber unerbittlich zu diesem Ort drängte. Sie konnte nicht länger zögern. Antworten warteten dort – oder zumindest ein Anfang.
***
Der Zug ratterte durch die Landschaft, und mit jeder Meile wurde die Welt außerhalb des Fensters dichter, dunkler. Die unberührte Wildnis Bayerns breitete sich aus wie ein Teppich aus Moos und Schatten. Nebelschwaden schlichen zwischen den knorrigen Bäumen, tauchten die Szenerie in eine diffuse Welt aus Grau und Grün. Die Sonne war hinter dichten Wolken verborgen, und das Licht des Tages schien kaum mehr als ein schwacher Schatten seiner selbst zu sein. Lilian saß in einem halb leeren Abteil, hatte ihre Geige sicher in ihrer Hülle neben sich platziert und starrte in das trügerische Nichts jenseits des Glases. Obwohl das Summen in ihrem Kopf verstummt war, schien es, als ob die Stille selbst einen Klang hätte.
Sie zog den Brief erneut aus ihrer Tasche. Die Worte darauf wirkten endgültig, fast graviert. Doch zugleich fühlte sie sich, als würde sie sich einer Welt nähern, die nicht für sie bestimmt war. Ihre linke Hand ruhte auf der Hülle der Geige, ein ständiger Kontakt, wie eine Erinnerung an das, was sie war – oder zumindest, was sie einmal gewesen war. Sie dachte an ihre Karriere, an die Bühne, an den Moment, in dem alles zerbrochen war. War die Burg Wolfsheim ein Neubeginn oder das Ende? Die Frage blieb wie ein ungesprochener Ton in ihrem Kopf hängen.
Ein Räuspern ließ sie aufblicken. Ein Mann saß ihr gegenüber, obwohl sie ihn zuvor nicht bemerkt hatte. Er war mittleren Alters, mit struppigem, braunem Haar und einer modischen, aber abgetragenen Wolljacke. Seine Augen waren von einer ungewöhnlich tiefen Klarheit, als ob sie die Schichten der Welt mühelos durchdringen könnten.
„Sie gehen zur Burg Wolfsheim“, sagte er, keine Frage, sondern eine Feststellung. Sein Bayerisch war weich, aber unverkennbar.
Lilian blinzelte, überrascht von seiner Direktheit. „Woher wissen Sie das?“ Ihre Stimme war vorsichtig, fast abwehrend.
Er zuckte mit den Schultern, ein sachtes, fast spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. „Man hört Dinge, besonders, wenn Fremde in diese Gegend kommen. Es gibt nicht viele, die freiwillig in die Nähe dieser Burg gehen.“
„Ich bin nicht auf der Suche nach Geschichten“, sagte Lilian und versuchte, ihre Nervosität zu verbergen. „Nur nach Antworten.“
Er nickte langsam, als hätte sie etwas ausgesprochen, das er bereits wusste. „Nun, Antworten sind eine gefährliche Sache. Manchmal bekommt man mehr, als man wollte.“
Seine Worte schienen wie ein schwacher Hall in ihr nachzuklingen. Sie spürte ein seltsames Kribbeln im Nacken, eine kalte, unsichtbare Berührung. Bevor sie etwas darauf erwidern konnte, schob er sich zurück in seinen Sitz, zog seinen Hut tief ins Gesicht und schloss die Augen, als hätte er alles gesagt, was er wollte. Lilian wandte sich wieder dem Fenster zu, und plötzlich schienen die Schatten der Landschaft tiefer und bedrohlicher.
***
Als der Zug im Bahnhof von Unterwacht hielt, war es, als hätte der Ort die Zeit verloren. Das schiefe Bahnhofsgebäude, die moosbewachsenen Schienen und der von Kies und Unkraut eingefasste Bahnsteig wirkten wie ein Überbleibsel aus einer anderen Ära. Lilian stieg aus, den Geigenkoffer eng an ihren Körper gepresst. Die Luft war kühl und roch nach feuchtem Holz und Erde. Ein leichter Nebel schwebte über dem Boden und machte die Umgebung unwirklich. Ein paar Dorfbewohner, gekleidet in einfache, wetterfeste Kleidung, musterten sie aus der Entfernung mit misstrauischen Blicken, bevor sie sich rasch abwendeten.
Ein Mann in einem schwarzen Mantel wartete am Ende des Bahnsteigs. Herr Kirchner, der Notar, wie sie rasch erkannte, als er sie mit einem höflichen Kopfnicken begrüßte. Er war ein hagerer Mann mittleren Alters, mit einem Gesicht, das von Gewohnheit und Pflicht gezeichnet war. Seine Augen waren wachsam, aber nicht direkt warm.
„Frau Weiß“, begann er mit einer Stimme, die ebenso nüchtern klang wie sein Äußeres, „ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.“ Er überreichte ihr einen schweren Schlüsselbund, dessen Metall kalt in ihrer Hand lag. „Das sind die Schlüssel zur Burg. Sie werden sehen, dass der Ort... einmalig ist.“
„Einmalig?“ wiederholte Lilian skeptisch.
„Das werden Sie selbst beurteilen müssen“, antwortete er ausweichend. Seine Miene verriet nichts. Er war sichtlich bemüht, den Kontakt kurz zu halten. „Ich rate Ihnen, vor Einbruch der Dunkelheit dort anzukommen. Die Wege können unübersichtlich sein.“
Bevor sie eine weitere Frage stellen konnte, deutete er auf einen schmalen, von Bäumen gesäumten Pfad, der vom Bahnhof in den Wald führte. „Von hier aus sind es etwa zwei Kilometer. Folgen Sie einfach dem Weg.“
***
Der Pfad zur Burg führte sie tief in den Wald. Die knorrigen Äste der Bäume griffen nach ihr wie Finger, und der Nebel schien sich schleichend um sie zu legen. Mit jedem Schritt wuchs das Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Die Stille war beinahe bedrückend, nur gelegentlich unterbrochen vom Rascheln der Blätter oder dem entfernten Ruf eines Vogels. Die Schatten der Bäume schienen sich zu bewegen, und jeder Schritt fühlte sich schwerer an als der vorherige.
Dann, plötzlich, hörte sie es. Eine Melodie, leise und kaum wahrnehmbar, aber dennoch da. Es war, als käme sie aus der Tiefe des Waldes, getragen von einem Wind, der kaum die Blätter bewegte. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Die Melodie war unheimlich vertraut und doch fremd, wie ein Fragment aus einem vergessenen Traum. Sie blieb stehen, lauschte, doch der Klang verlor sich im Nebel.
Als sie schließlich die Lichtung erreichte, auf der die Burg stand, stockte ihr der Atem. Die Mauern aus dunklem Stein schienen die Zeit selbst zu trotzen, und doch war der Verfall nicht zu übersehen. Efeu rankte sich über die Wände, und die Fenster wirkten wie leere Augenhöhlen, die in die Finsternis starrten. Über den Zinnen kreisten Krähen, deren schrille Schreie die Stille zerrissen. Der Anblick war furchteinflößend und doch erhaben.
Lilian trat durch das massive Tor, dessen Holz knarrte, als hätte es sich lange nicht mehr bewegt. Der Innenhof war überwuchert, die Pflastersteine mit Moos bedeckt. Und doch fühlte sie, dass sie hierher gehörte, als hätte die Burg sie erwartet.
Sie hielt inne, das Gewicht des Schlüssels in ihrer Hand. Die Schatten der Burg waren lang, und die Luft schien dicker zu werden. Und dann, ganz leise, hörte sie wieder die Melodie. Sie war da, kaum mehr als ein Flüstern, und doch reichte sie aus, um ihren Atem anzuhalten. Antworten lagen in diesen Mauern verborgen, und sie würde sie finden – egal, welche Geheimnisse auf sie warteten.