reader.chapter — Käfig aus Glas
Lera
Die funkelnden Lichter der endlosen Stadt warfen ein kaltes, unnahbares Leuchten auf die schwarzen Marmorwände und gläsernen Flächen des Penthouse von Nikolay. Valeriya „Lera“ Mikhailova stand regungslos vor der raumhohen Fensterfront, die wie ein offener Abgrund wirkte, als wäre sie nur einen einzigen Schritt vom endgültigen Fall entfernt. Die Stadt darunter pulsierte mit einer unaufhörlichen Energie, die sie gleichzeitig faszinierte und abstieß. Aus dieser Höhe betrachtet, wirkten die Straßen wie Adern eines gewaltigen Wesens, das von Gewalt und Macht genährt wurde. Doch hier oben war es still. Zu still.
Ein leises Knarren drang durch die Stille, als der feine Regen an die Außenwände des Penthouse peitschte und die Welt dahinter in einen verschwommenen Schleier tauchte. Lera strich mit den schlanken Fingern über die kalte Glasfläche. Ihre grauen Augen, kühl und unergründlich, schienen nicht die funkelnden Stadtlichter noch die Dunkelheit widerzuspiegeln, die sie umgab. Stattdessen war in ihnen eine tiefe Leere zu erkennen, eine Stille, die sie seit Jahren kultiviert hatte. Ihre rechte Hand, gezeichnet von feinen Narben, verharrte kurz auf dem Glas, bevor sie sie unbewusst zur Faust ballte.
Ein kaum wahrnehmbares Lächeln spielte auf ihren Lippen, blass und unbewegt. Es war die Art von Lächeln, die jemand aufsetzte, der die Regeln eines tödlichen Spiels verstand, aber noch nicht alle Züge des Gegners kannte.
Das Penthouse um sie herum war ein Monument der Macht und des Reichtums. Die Möbel – minimalistisch, aber teuer – wirkten wie Requisiten in einem Theaterstück, das für einen einzigen Zuschauer inszeniert wurde. Jeder Gegenstand in diesem Raum war sorgfältig ausgewählt, um Nikolays Kontrolle über alles und jeden zu demonstrieren. Der schwarze Marmor, das kalte Glas, die unfehlbare Ordnung – sie alle waren Spiegel seiner Seele. Hier gab es keine Wärme, keine Spuren von Menschlichkeit. Nur Perfektion, die wie die Mauern eines Käfigs um sie herum geschlossen war.
Ein leises Klirren unterbrach ihre Gedanken – das Klacken von Absätzen auf poliertem Boden. Leras Blick glitt zur Tür, wo eine schlanke Silhouette im warmen Schein der Wandleuchte auftauchte. Nikolay war dort, ein Schatten, der sich durch die Dunkelheit schnitt. Seine Präsenz war unbestreitbar. Ein Mann mit einem kantigen Gesicht und Augen, die alles zu durchbohren schienen. Der maßgeschneiderte Anzug, den er trug, unterstrich seine raubtierhafte Eleganz, während der Geruch von teurem Whisky und eine kaum wahrnehmbare Note von Schießpulver ihn ankündigten, bevor er ein einziges Wort sprach.
„Du bist still heute Abend.“ Seine Stimme war ruhig, mit einer schneidenden Härte, die Lera seit Jahren kannte. Es war die Art von Stimme, die keine Widerrede duldete, nur Gehorsam.
Lera drehte sich zu ihm um, ihre Bewegungen elegant, aber zurückhaltend, wie die eines Schachspielers, der den nächsten Zug seines Gegners abwägte. „Manchmal sagt Stille mehr als Worte. Vor allem in einer Welt, die sie ohnehin ignoriert.“ Ihre Stimme war glatt wie Seide, doch ein Hauch von Ironie schwang mit, der ihre Kälte durchbrach.
Ein Schmunzeln – gefährlich und besitzergreifend – zog sich über Nikolays Lippen. Er trat näher und ließ dabei jede Bewegung kontrolliert wirken, ein Raubtier, das seine Beute studierte. Sein Blick, schwer und intensiv, bohrte sich in ihre grauen Augen wie die Klinge eines Messers, während er sie fixierte. „Du weißt, dass ich Stille nicht mag, Valeriya. Es ist ein Versteck. Eine Ausrede. Und Ausreden... sind Schwäche.“
Ihre Finger zuckten kaum merklich, bevor sie ihre Haltung in eiserner Beherrschung hielt. Sie hatte längst gelernt, nie als Erste den Blick abzuwenden. Es war eine unausgesprochene Regel in ihrer Welt, dass die Augen die Wahrheit verrieten – und ihre Wahrheit durfte niemals sichtbar sein. „Vielleicht ist es das“, erwiderte sie kühl. „Oder vielleicht ist Schweigen genau das, was diese Welt braucht, wenn Worte nichts verändern.“
Sein Schmunzeln veränderte sich, wurde zu einem Raubtierlächeln. Er trat noch näher, bis der Duft seines Whiskys und seiner Macht die Luft zwischen ihnen erstickte. „Du gehörst mir, Valeriya. Vergiss das nicht.“
Seine Hand griff nach ihrem Kinn, die Kälte seiner Finger zwang sie, den Kopf zu heben, obwohl sie sich ihm ohnehin schon gegenüberstellte. „Dein Schweigen gehört mir. Deine Worte gehören mir. Alles an dir gehört mir.“
Lera fühlte den Druck seiner Haut, die Härte seiner Worte, die wie Ketten um sie geschlungen waren. Doch sie lächelte leicht – ein Lächeln, so flüchtig wie ein Schatten. „Natürlich, Nikolay. Alles, was ich bin, ist dein.“
Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen, während Nikolay sie durchdringend musterte, als suche er nach einem Anzeichen von Widerstand. Doch Lera war ein Meister der Masken. Sie hatte sich so lange hinter ihrer Rolle als perfekte, loyale Ehefrau verborgen, dass selbst Nikolay nur das sah, was sie ihm erlaubte.
„Ich erwarte, dass du hier bist, Valeriya. Enttäusch mich nicht.“ Seine Stimme war weich, fast flüsternd, doch der drohende Unterton war unverkennbar.
„Natürlich.“ Lera nickte gehorsam, ihre Hände behutsam ineinandergelegt.
Nikolay zögerte nur einen Augenblick, bevor er sich umdrehte und den Raum verließ. Seine Schritte hallten durch die stillen Gänge des Penthouse, bis schließlich das Schließen der Tür die Stille endgültig zurückbrachte.
Lera atmete tief durch, ihre Haltung sank leicht zusammen, nur ein wenig – gerade genug, um die Spannung in ihren Schultern zu lösen. Sie drehte sich zurück zur Fensterfront, ihre grauen Augen auf die unruhigen Straßen unter ihr gerichtet.
Ein Gedanke brannte in ihrem Inneren, ein Feuer, das sie trotz allem warm hielt. Nikolay mochte glauben, dass er der Jäger war, aber er hatte vergessen, dass ein Käfig nicht nur Gefangene, sondern auch Räuber beherbergen konnte. Und sie war bereit, zuzuschlagen.
Sie hob ihre rechte Hand, die feinen Narben auf ihrer Haut schimmerten im gedämpften Licht. Jede dieser Linien war eine Erinnerung – an die Gewalt, die sie erduldet hatte, und an die Stärke, die sie daraus geschöpft hatte. Es war ein stummer Schwur, dass sie nie wieder Opfer sein würde.
Der Käfig mochte aus Glas sein, doch Glas konnte brechen. Und wenn der Moment kam, würde sie dafür sorgen, dass ihr Schlag alles zerschmetterte.