reader.chapter — Schattenmarkt
Lera
Die Luft roch nach verbranntem Plastik, billigem Benzin und der Hoffnungslosigkeit, die sich wie ein unsichtbarer Schleier über den Schwarzmarkt von Zatmeniye legte. Neonlichter in giftigem Grün und blutrotem Schimmer flackerten unregelmäßig und tauchten die schmalen, nassen Gassen in ein albtraumhaftes Licht. Lera zog den Kragen ihres dunklen Mantels enger, mehr um sich zu tarnen als vor der beißenden Kälte zu schützen. Die Einsamkeit dieser Welt war erdrückend, und doch fühlte sie sich in ihrer Dunkelheit seltsam vertraut. Hier war jeder ein Fremder, und genau das war es, was sie brauchte.
Die improvisierten Stände, gebaut aus rostigem Metall und krummem Holz, bogen sich unter der Last von Waffen, gestohlenen Schmuckstücken und Drogen, die in kleinen, unscheinbaren Päckchen verpackt waren. Zwischen den Reihen der Händler schoben sich Käufer, Informanten und andere verlorene Seelen – ein geschäftiges, gefährliches Labyrinth aus Macht und Verzweiflung.
Lera hielt den Kopf gesenkt, doch ihre Augen blieben wachsam, glitten über die Gesichter der Menschen um sie herum. Ein Gefühl der Anspannung legte sich auf ihre Schultern. Jedes Flüstern, jeder undeutliche Blick schien ein Test zu sein, eine Prüfung ihrer Nerven und ihres Verstandes. Sie spürte, dass sie beobachtet wurde, spürte Blicke aus den Schatten, die sie verfolgten, als sie sich durch die Gassen bewegte.
Sie suchte ihn. Maxim „den Henker“ Ivanov. Der Mann mit den eisblauen Augen, dessen Ruf selbst in den dunkelsten Ecken der Bratva ein Schaudern hervorrief. Sie wusste, dass dies ein Spiel mit dem Feuer war. Und doch – war es nicht immer das Feuer, das sie anzog?
Ein plötzlicher Schrei durchbrach die Geräuschkulisse des Marktes, gefolgt vom dumpfen Aufprall eines Körpers, der gegen eine Metallwand schlug. Lera blieb stehen, doch sie drehte sich nicht um. Solche Szenen gehörten hier zum Alltag – ein weiterer, der den Kodex der Bratva gebrochen hatte oder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war. Sie atmete tief durch, schloss die Augen für einen Moment und ließ die Angst, die in ihrem Inneren brodelte, in die Maske äußerer Gelassenheit fließen.
Ein Stand mit glitzernden Uhren und goldenen Ketten lenkte ihre Aufmerksamkeit. Der Händler, ein kleiner, schmieriger Mann mit schiefem Grinsen, musterte sie gierig. „Etwas Schönes für die Dame?“ fragte er, seine Stimme so glatt wie Öl.
„Nicht heute.“ Ihre Antwort war knapp, fast beiläufig, doch der Ton ließ keinen Raum für weitere Fragen.
Sie bewegte sich weiter, ihre Absätze klangen gedämpft auf dem unebenen, feuchten Pflaster. Schließlich blieb sie vor einem Stand stehen, der mit alten, zerkratzten Waffen bestückt war. Ein junger Mann, kaum älter als zwanzig, blickte nervös zwischen ihr und den anderen Passanten hin und her.
„Wo ist er?“ fragte Lera leise, ohne den Jungen direkt anzusehen.
Er zögerte, kaute auf seiner Unterlippe, bevor er schließlich mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken zu einem schmalen Seitengang deutete. „Hinter dem roten Vorhang.“
Lera spürte, wie ihre Nackenhaare sich aufstellten. Sie ließ ihren Blick flüchtig über die Gassen schweifen, suchte nach irgendetwas, das nicht stimmte. Für einen Moment glaubte sie, eine Bewegung im Augenwinkel zu sehen – ein Schatten, der sich lautlos bewegte. Doch als sie genauer hinsah, war da nichts.
„Danke.“ Ihre Stimme war ruhig, obwohl ihre Gedanken rasten. Sie schob eine kleine Menge Geld in seine Richtung, die er hastig an sich nahm. Ohne ein weiteres Wort setzte sie ihren Weg fort.
Der Gang war noch dunkler als die Hauptgasse, die Neonlichter schienen hier nicht hinzureichen. Feuchtigkeit tropfte von den bröckelnden Wänden, und der Geruch von Moder und altem Metall drang in ihre Nase. Ihre Schritte hallten leise wider, und sie konnte nicht sagen, ob die anderen Geräusche, die sie hörte, real waren oder nur die Streiche ihrer eigenen Anspannung. Sie spürte die Augen der Unsichtbaren, die sie aus den Schatten heraus beobachteten.
Der rote Vorhang war fleckig und zerrissen, eine absurde Geste von Privatsphäre in einer Welt, die keine Geheimnisse kannte. Lera blieb stehen, ihre Hand schwebte kurz über dem Stoff. Sie wusste, dass dahinter nichts mehr sicher war. Würde sie Maxim trauen können? Nein, entschied sie. Aber Vertrauen war hier ohnehin eine Illusion. Alles, was zählte, war Kontrolle. Und sie würde ihre behalten.
Sie schob den Vorhang beiseite und trat ein.
Der Raum dahinter war nicht viel besser – klein, stickig, der Boden bedeckt von zerknitterten Zeitungen und Zigarettenstummeln. Doch Maxim Ivanov war da.
Er saß lässig auf einem wackeligen Stuhl, ein Bein über das andere geschlagen, während er eine Zigarette zwischen seinen Fingern drehte. Auf dem Tisch vor ihm lag eine Pistole, säuberlich zerlegt, ihre Einzelteile glänzten im schwachen Licht einer einzigen nackten Glühbirne. Seine eisblauen Augen richteten sich sofort auf Lera, durchdrangen sie mit einer Intensität, die sie zwang, ihre Haltung zu straffen.
„Valeriya Mikhailova,“ sagte er, und seine Stimme war genauso, wie sie es erwartet hatte – tief, ruhig, und mit einer schneidenden Kante, die keine Widerrede duldete. „Was für eine Überraschung.“
„Maxim Ivanov,“ erwiderte Lera kühl, ihre grauen Augen fixierten ihn. „Oder sollte ich dich lieber ‚den Henker‘ nennen?“
Ein leichtes, humorloses Lächeln zuckte über seine Lippen. „Nur meine Freunde nennen mich so.“
„Dann habe ich wohl Glück, dass ich nicht zu ihnen gehöre.“
Maxim lehnte sich zurück, ließ die Zigarette auf den Boden fallen und trat sie mit seiner Stiefelspitze aus. „Und doch bist du hier,“ sagte er, seine Stimme ein tiefer, gefährlicher Klang in der Enge des Raums. „Was willst du, Valeriya?“
Lera hielt seinem Blick stand, obwohl die Kälte seiner Augen tief in ihre Seele zu schneiden schien. Ein Teil von ihr wollte zurückweichen, doch sie zwang sich, aufrecht zu bleiben. „Einen Handel,“ sagte sie schließlich. Ihr Ton war messerscharf, doch sie wusste, dass sie sich keine Schwäche erlauben durfte. Nicht hier. Nicht jetzt.
Maxim schwieg, sein Gesicht eine undurchdringliche Maske. Doch in seinen Augen blitzte etwas auf – eine Mischung aus Neugier und vorsichtiger Berechnung. „Einen Handel,“ wiederholte er langsam. „Und was könnte eine Frau wie du mir anbieten, das mich interessiert?“
„Nikolay.“ Sein Name war ein einziges Wort, doch es hallte wie ein Schuss durch den Raum.
Maxim verzog keine Miene, doch seine Haltung veränderte sich, kaum wahrnehmbar. Er richtete sich auf, seine Aufmerksamkeit nun vollständig auf sie gerichtet. „Ich höre.“
„Ich will ihn stürzen,“ erklärte Lera, ihre Stimme ruhig und entschlossen. „Und ich brauche deine Hilfe.“
Ein Lachen entkam Maxim, kurz und rau, ohne jede Freude. „Du willst Nikolay stürzen,“ sagte er, als sei die Vorstellung absurd. „Und du denkst, ich würde dir dabei helfen?“
„Du hast keinen Grund, es nicht zu tun,“ sagte Lera, und ihre Augen blitzten auf. „Ich weiß, dass du keine Loyalität zu ihm empfindest. Für dich ist er nur ein Mittel zum Zweck, genauso wie für mich.“
Maxim betrachtete sie lange, während er ihre Worte abwägte. Schließlich lehnte er sich wieder zurück, ein scharfes Lächeln zuckte über seine Lippen. „Du hast Mut,“ sagte er leise. „Das muss ich dir lassen. Aber Mut allein bringt dich nicht weit in dieser Welt.“
„Ich bin kein naives Mädchen, das sich von Illusionen leiten lässt,“ sagte Lera, und in ihrer Stimme lag eine kalte Entschlossenheit. „Ich habe einen Plan. Und ich weiß, dass du derjenige bist, den ich dafür brauche.“
„Und wenn ich nein sage?“ fragte Maxim, seine Augen verengten sich.
„Dann werde ich einen anderen Weg finden,“ antwortete Lera, und ihre Worte waren wie eine Klinge, die durch die Stille schnitt. „Aber ich denke, du bist klug genug, um zu erkennen, dass dies auch in deinem Interesse liegt.“
Für einen Moment schien es, als würde Maxim sie weiterhin herausfordern, doch dann nickte er langsam. „Vielleicht hast du recht,“ sagte er schließlich. „Aber ich spiele nicht nach den Regeln anderer, Valeriya. Wenn du mit mir arbeiten willst, dann zu meinen Bedingungen.“
Lera hielt den Atem an, ihre Gedanken rasten. Sie wusste, dass dies der erste Zug in einem Spiel war, das tödlicher war als jedes andere, das sie je gespielt hatte. Doch sie war bereit, das Risiko einzugehen.
„Einverstanden,“ sagte sie schließlich, und ihre Stimme war fest. „Solange die Bedingungen uns beide ans Ziel bringen.“
Maxims Lächeln kehrte zurück, kalt und gefährlich. „Dann lass uns sehen, ob du wirklich so clever bist, wie du denkst.“
Lera spürte, wie ihr Herz schneller schlug, doch sie ließ sich nichts anmerken. Sie hatte einen Schritt in die Dunkelheit gemacht, und es gab kein Zurück mehr.