reader.chapter — Die kalte Fassade von Aureum
Alina Leroux
Das monotone Surren der Drohnen, die über der Stadt kreisten, war wie ein ständiges Flüstern im Hintergrund. Alina Leroux stieg aus dem autonomen Wagen, der sie vor dem imposanten Gebäude der Kanzlei Volgrath & Partner abgesetzt hatte. Der Duft von kaltem, gereinigtem Regenwasser und Ozonschichten hing schwer in der Luft, gemischt mit dem sterilen Aroma von Desinfektionsmitteln, das aus den Lüftungsschächten strömte. Es war ein Morgen wie jeder andere in Aureum, wo das Grau der Wolken und die Reflexionen der gläsernen Türme jeden Anflug von Individualität erstickten.
Ihre Absätze klickten auf dem metallischen Gehweg, ein präziser Rhythmus, der ihren festen Schritt und ihre unumstößliche Haltung verriet. Der dunkle, perfekt geschnittene Anzug schmiegte sich an ihre schlanke Silhouette, das glatte Haar war wie immer zu einem strengen Knoten gebunden. Ihr Blick — eisblau und kühl, wie die Stadt selbst — glitt über die vorbeihastenden Menschen, die in stummem Gehorsam ihrer Routine folgten. Sie waren kalkulierte Zahnräder in einem System, das auf Kontrolle und Effizienz gebaut war. Und Alina verstand dieses System. Sie war ein Teil davon.
Im Inneren des Gebäudes umfing sie die gewohnte Atmosphäre aus glänzendem Marmor, gedämpftem Licht und der stillen, aber spürbaren Macht, die durch die Flure waberte. Die Luft war kühl, fast zu steril, und der Geruch von poliertem Holz und frisch gebrühtem Kaffee lag in der Luft. Alina nickte den wenigen Kollegen, die sie passierten, knapp zu. Ihre Präsenz in diesem Umfeld war unangefochten, doch sie wusste, dass Respekt in dieser Welt ein flüchtiges Gut war. Jeder Schritt musste perfekt kalkuliert sein, jeder Blick eine Botschaft senden.
„Frau Leroux“, begrüßte sie die Sekretärin von Herr Volgrath mit einem höflichen, aber distanzierten Lächeln. „Herr Volgrath erwartet Sie bereits in seinem Büro.“
Alina nickte, warf keinen weiteren Blick zurück und bewegte sich mit der Präzision einer Klinge durch den Flur. Die Tür zu seinem Büro war aus dunkel getöntem Glas, verziert mit goldenen Akzenten, die von Reichtum und Macht kündeten. Sie klopfte ein einziges Mal, bevor sie eintrat.
Herr Volgrath saß an einem massiven Schreibtisch aus schwarzem Ebenholz, die Hände wie Schwerter auf die Tischplatte gelegt. Sein Blick war scharf, durchdringend, und doch von einer kühlen Berechnung, die Alina nur zu gut kannte. Er war ein Mann, der jede Schwäche seines Gegenübers ausnutzen konnte, und jemand, bei dem selbst Loyalität einen Preis hatte. Doch er war auch der Mann, dem sie einen Großteil ihres Aufstiegs zu verdanken hatte.
„Setzen Sie sich, Alina“, sagte er und deutete mit einem knappen Nicken auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Seine Stimme war ruhig, aber der Unterton ließ keinen Widerspruch zu.
Alina setzte sich, den Rücken gerade, die Hände gefaltet. „Sie wollten mich sprechen, Herr Volgrath.“
Er lehnte sich leicht zurück, seine dunkelgrauen Augen auf sie gerichtet. „Ein besonderer Fall ist auf meinem Schreibtisch gelandet. Ein Fall, den ich nur Ihnen anvertrauen kann.“
Ein Hauch von Neugierde regte sich in ihr, doch sie ließ es sich nicht anmerken. „Ich höre“, erwiderte sie knapp.
„Kael Veyron“, begann er und ließ den Namen für einen Moment im Raum hängen, als wolle er die Wirkung testen. „Ein Werwolf. Er wird des Mordes an einem hochrangigen Regierungsbeamten beschuldigt.“
Alina hob eine Augenbraue, ein winziges Zeichen des Interesses. Solche Fälle waren normalerweise nicht ihre Zuständigkeit. Sie war bekannt für ihre Präzision und ihre Erfolge, doch ihre Mandanten waren meist einflussreiche Mitglieder der Elite, keine Marginalisierten aus den Randgebieten.
„Es gibt eine politische Brisanz in diesem Fall, die Sie nicht ignorieren können“, fuhr Volgrath fort. „Es ist nicht nur ein Mordprozess. Es ist eine Gelegenheit, Ihre Position in der Kanzlei und in der Gesellschaft zu festigen.“
„Warum wurde dieser Fall mir zugeteilt?“ Ihre Stimme war ruhig, doch ihre Gedanken rasten. Volgrath war nicht der Typ, der Entscheidungen ohne Grund traf. Wenn er ihr diesen Fall gab, dann musste etwas anderes dahinter stecken.
„Weil ich glaube, dass Sie die Einzige sind, die ihn handhaben kann“, antwortete er, doch etwas in seinem Tonfall ließ Alina stutzen. Es war mehr als das. Die Spannung, die plötzlich im Raum hing, war greifbar. Volgrath war ein Meister darin, seine wahren Absichten zu verbergen, doch Alina konnte die feinen Risse in seiner Maske spüren.
„Ich werde die Verteidigung übernehmen“, sagte sie schließlich. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Sie würde diesen Fall annehmen. Nicht, weil sie Volgrath vertraute, sondern weil sie die Herausforderung wollte. Und die Macht.
„Gut.“ Volgrath erhob sich, und Alina folgte seinem Beispiel. „Die Akten sind bereits an Ihre Assistentin übergeben worden. Ich erwarte, dass Sie ihn mit der gleichen Präzision und Effizienz behandeln wie alle Ihre anderen Fälle.“
„Natürlich.“ Alina drehte sich um, bereit, das Büro zu verlassen. Doch bevor sie die Tür erreichte, sprach Volgrath noch einmal.
„Alina“, sagte er, und sie hielt inne, ohne sich umzudrehen. „Dieser Fall wird Sie in gefährliche Gewässer führen. Ich hoffe, Sie sind darauf vorbereitet.“
Ein seltsames Kribbeln lief ihr über den Rücken, doch sie unterdrückte es. „Ich bin immer vorbereitet“, antwortete sie kühl und verließ den Raum.
Als sie zurück in ihrem Büro war, ließ sie sich in ihren Stuhl sinken und griff nach der Akte, die auf ihrem Schreibtisch lag. Das Bild eines Mannes mit bernsteinfarbenen Augen, einer wilden Mähne dunklen Haares und Narben, die von einem Leben voller Kämpfe zeugten, starrte sie an. Kael Veyron. Etwas an diesem Namen, an diesem Gesicht, ließ eine unerklärliche Unruhe in ihr aufkommen.
Die nächsten Stunden verbrachte sie damit, die Details des Falls zu studieren. Die Beweise gegen Kael waren erdrückend, fast zu perfekt. Zeugenaussagen, Überwachungsvideos, Spuren am Tatort – alles passte nahtlos zusammen. Doch gerade diese Perfektion ließ Alina innehalten. In einer Welt, die von Chaos und Grausamkeit geprägt war, war nichts je so eindeutig.
Ihr Blick wanderte zum Fenster hinaus, wo die Türme von Aureum im kühlen Kunstlicht glänzten. Für die meisten Menschen, die in dieser Stadt lebten, war der Anblick beruhigend, ein Symbol von Ordnung und Sicherheit. Doch Alina konnte nicht aufhören, an die Worte ihres Mentors zu denken. „Gefährliche Gewässer.“
Ein Teil von ihr wollte glauben, dass dies nur ein weiterer Fall war. Dass sie den Mann verteidigen, den Prozess gewinnen und ihre Karriere weiter vorantreiben würde. Doch ein anderer, fast vergessener Teil in ihr – ein Teil, den sie seit ihrer Kindheit tief begraben hatte – flüsterte etwas anderes. Etwas Dunkleres. Etwas, das sie noch nicht verstehen konnte.
Noch nicht.