reader.chapter — Begegnung mit dem Gefangenen
Alina Leroux
Die kühle Luft in der gepanzerten Transportkapsel schmeckte nach Metall, als Alina Leroux ihren Blick aus dem Fenster auf die glatten, sterilen Straßen von Aureum richtete. Der monotone Rhythmus ihres Atems begleitete die gedämpften Vibrationen des Fahrzeugs. Sie hatte den Fall angenommen, weil er eine einmalige Gelegenheit bot, ihre Position in der Kanzlei und in der Welt zu stärken. Doch der Gedanke an die politische Brisanz ließ sie unruhig werden. Es war keine Angst, sondern ein unangenehmes Kribbeln – als würde sie eine gewaltige, unsichtbare Maschinerie stören, deren Räder seit Ewigkeiten mit unerbittlicher Präzision ineinandergreifen.
Als sie vor dem massiven, grauen Bau des Hochsicherheitsgefängnisses ankam, war es, als würde die Welt um sie herum verstummen. Die hohen, unnahbaren Mauern schienen jede Wärme zu verschlucken, und selbst die Luft schien hier dichter. Alina straffte die Schultern und trat mit geradem Rücken durch die Sicherheitsschleuse. Ihr anthrazitfarbener Anzug, makellos wie geschmiedetes Metall, schien in dieser Umgebung fast zu verschmelzen.
Die Schleuse piepte, und ein rotes Licht blitzte über ihren Augen, bevor es grün wurde. „Anwältin Leroux“, sagte die Wache, ein breitschultriger Mann mit einem Gesicht wie aus Stein gemeißelt. „Bitte folgen Sie mir.“
Sie nickte knapp, während ihr die sterile, bedrückende Atmosphäre entgegenschlug. Der Geruch von Desinfektionsmitteln und Ozon war so intensiv, dass er beinahe die unterschwellige Note von Angst überdeckte, die in der Luft lag wie eine alte, unausgesprochene Wahrheit.
Der Klang ihrer Absätze hallte durch die metallischen Gänge, ein einsamer Rhythmus in der erdrückenden Stille. Sie spürte die Blicke der Wachen, kalt und abschätzend, als wollten sie sie aus der Distanz sezieren. Heute jedoch schien etwas anders. Die Spannung war dichter, beinahe greifbar. Ein leises Summen, kaum hörbar, begleitete das Flackern winziger Drohnen, die wie mechanische Schatten an der Decke lauerten.
Sie folgte der Wache durch ein Labyrinth aus Korridoren und verschlossenen Türen. Ihre Schritte verlangsamten sich unmerklich, als sie an einer Wand vorbeikam, auf der eingravierte Zeichen zu sehen waren – primitive, wilde Linien, kaum sichtbar unter den Schichten neuer Farbe. Sie registrierte sie, ließ sich aber nicht anmerken, dass sie aufgefallen waren.
Schließlich blieben sie vor einer schweren, stählernen Tür stehen, die mit leuchtenden Ziffern markiert war. Die Wache holte einen Scanner hervor, und mit einem kurzen, zischenden Geräusch glitt die Tür zur Seite.
Kael Veyron saß auf der schmalen Pritsche an der Wand, seine Haltung lässig, aber seine Augen wachen. Sie glühten wie Bernstein im trüben Licht der Zelle – intensiv, eindringlich, als könnten sie durch jede Schicht ihrer Fassade blicken. Er hob den Kopf, ein leichtes, ironisches Lächeln auf seinen Lippen. „Anwältin“, sagte er, seine Stimme rau und tief, mit einem Unterton von Amüsement.
Alina trat ein, die Tür schloss sich hinter ihr mit einem dumpfen Knall. Sie erlaubte sich einen Moment, ihn zu mustern. Er war groß, mit breiten Schultern, und sein grauer Gefangenenoverall konnte die Narben auf seinen Armen und Händen nicht verbergen. Sein dunkles Haar war zerzaust, als würde er sich jeder Form von Ordnung bewusst widersetzen. Doch es war etwas anderes, das ihre Aufmerksamkeit fesselte – ein Hauch von Wildheit, der mehr war als nur Trotz.
„Herr Veyron“, begann sie, ihre Stimme ruhig und kontrolliert. Sie stellte ihre Aktentasche auf den schmalen Tisch und setzte sich auf den einzigen Stuhl. „Ich bin hier, um Ihren Fall zu besprechen.“
Kael lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sie mit einem Blick, der gleichzeitig belustigt und prüfend war. „Jemand wie Sie verteidigt keinen wie mich – es sei denn, Sie profitieren davon.“
Seine Worte schnitten wie eine scharfe Klinge, präzise und provokativ. Alina spürte eine Welle von Ärger in sich aufsteigen, doch sie unterdrückte sie mit der Disziplin, die sie über Jahre perfektioniert hatte. „Ich bin hier, um den Fall zu analysieren, nicht zu urteilen“, entgegnete sie kühl.
Kael lachte leise, ein raues, bitteres Geräusch. „Analyse. Fairer Prozess. Das sind nette Worte, Anwältin. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass dieses System keine Fairness kennt.“
Sie ignorierte seinen Sarkasmus und schlug die Akte auf, die sie mitgebracht hatte. „Sie werden des Mordes an einem Regierungsbeamten beschuldigt. Die Beweise gegen Sie sind umfangreich, aber sie weisen Schwächen auf. Es gibt Ungereimtheiten, die ich untersuchen werde.“
Kael beugte sich vor, seine bernsteinfarbenen Augen fixierten ihre wie ein Jäger die Beute. „Und was, wenn diese Ungereimtheiten keine Lücken, sondern Fallen sind? Was, wenn Sie sich selbst in Gefahr bringen, nur indem Sie hier sitzen?“
Alina hob eine Augenbraue, ließ sich aber nicht einschüchtern. „Das ist mein Beruf. Gefahr gehört dazu.“
Kaels Gesicht verzog sich zu einem Lächeln, das mehr Melancholie als Freude ausstrahlte. „Sie verstehen es nicht. Sie denken, Sie sind hier, um mich zu retten. Aber in Wahrheit sind Sie diejenige, die gerettet werden muss.“
Die Worte trafen sie, unerwartet und unangenehm. Für einen Moment fühlte sie, wie etwas in seiner Stimme eine verborgene Saite in ihr anschlug. Sie schüttelte den Gedanken ab und richtete sich auf. „Wenn Sie mir nichts Nützliches über die Nacht des Vorfalls erzählen können, wird es schwierig sein, Ihren Fall zu verteidigen.“
Kael sah sie lange an, sein Blick war durchdringend, fast schmerzhaft in seiner Intensität. Schließlich sprach er, seine Stimme leise und doch eindringlich. „Ich war dort. Aber ich habe ihn nicht getötet.“
„Das behaupten die meisten Angeklagten“, erwiderte sie, ihre Stimme glatt, obwohl sie merkte, dass diese Antwort sie weniger überzeugte, als sie wollte.
„Vielleicht“, sagte Kael. „Aber in diesem Spiel bin ich nicht derjenige, der die Fäden zieht. Und ehrlich gesagt, Anwältin, denke ich, dass Sie das auch nicht sind.“
Eine kurze Stille breitete sich aus. Alina schloss ihre Akte mit einer präzisen Bewegung und erhob sich. „Ich werde die Beweise prüfen. Und ich werde herausfinden, wer die Fäden zieht, Herr Veyron. Das verspreche ich Ihnen.“
Als sie zur Tür ging, hielt Kael sie noch einmal auf. „Vorsicht, Alina Leroux. Manche Wahrheiten sind älter und mächtiger, als Sie es sich vorstellen können. Und manchmal ist es besser... sie nicht zu kennen.“
Sie zögerte, drehte sich aber nicht um. Seine Worte hallten in ihrem Geist wider, und zum ersten Mal spürte sie, wie ein unsichtbares Gewicht auf ihre Schultern legte.
Draußen im Korridor schien die kühle Luft sie zu umarmen, doch sie brachte keine Erleichterung. Etwas an Kaels Worten und seinem Blick hatte eine Unruhe in ihr geweckt, die sie nicht abschütteln konnte.
Als sie das Gefängnis verließ, hallten seine letzten Worte in ihrem Kopf nach, wie ein Echo aus einer fernen Welt. Sie wusste nicht, was sie bedeuteten, doch sie wusste, dass dieser Fall mehr war als ein Karriereaufstieg. Es war eine Tür zu einer Wahrheit, die sie nicht hatte sehen wollen – und die ihre Welt für immer verändern könnte.