reader.chapter — Verwirrende Beweise
Alina Leroux
Ein monotones Summen erfüllte Alinas Apartment, unterbrochen nur vom gelegentlichen Klacken ihrer Absätze auf dem polierten Boden. Nervös schritt sie auf und ab, während das kalte, bläuliche Licht der Monolithstadt Aureum durch die hohen, bodentiefen Fenster fiel. Die Nacht in Aureum war nie wirklich dunkel – ein endloses künstliches Glühen verdrängte die natürliche Stille und ließ die Zeit stillstehen.
Das Apartment spiegelte ihre Persönlichkeit wider: minimalistisch, präzise, beinahe steril. Die akzentuierten Linien und dunklen Farbtöne dienten nicht nur der Ästhetik, sondern auch ihrem Bedürfnis nach Kontrolle. Doch die geöffnete Akte auf dem gläsernen Schreibtisch mitten im Raum störte diese sorgfältige Ordnung – und mit ihr Alinas innere Balance.
Kael Veyrons Worte hallten noch immer in ihrem Kopf nach. „Manche Wahrheiten sind älter und mächtiger, als Sie es sich vorstellen können.“ Wie ein Splitter, der sich unter die Haut gegraben hatte, ließ sie der Gedanke nicht los. Seine Stimme hatte etwas Echtes, Überzeugendes an sich gehabt, das sie weder ignorieren noch logisch erklären konnte. Warum konnte sie ihn nicht einfach abschütteln? Sie hatte doch schon unzählige Male kryptische Aussagen gehört – und unzählige Male hatte sie diese mit kalter Präzision entkräftet.
Alina atmete scharf ein und zwang sich, die Gedanken beiseitezuschieben. Es war nicht die Zeit für Rätsel. Sie zog sich einen Stuhl heran und ließ sich an ihrem Schreibtisch nieder. Vor ihr lagen die makellos geordneten Dokumente des Falls – Zeugenaussagen, Überwachungsaufnahmen, forensische Berichte – alles, was die Regierung sorgfältig zusammengestellt hatte, um aus Kael Veyron einen kaltblütigen Mörder zu machen.
Je länger sie jedoch die Akten studierte, desto stärker wurde das Gefühl, dass etwas nicht stimmte.
Die erste Zeugenaussage kam von einem Mann namens Conrad Helvey, einem Beamten mittlerer Ebene, der angeblich zufällig am Tatort gewesen war. Er behauptete, Kael dabei beobachtet zu haben, wie er das Opfer mit bloßen Händen attackiert hatte. Alina betrachtete die Überwachungsaufnahmen, die Helveys Aussage stützen sollten. Doch etwas daran war seltsam. Die Gestalt auf den Bildern ähnelte Kael, ja, aber die Aufnahmen waren unscharf und ungenau – untypisch für die Überwachungskameras in Aureum, die normalerweise jede Bewegung und jedes Gesicht in makelloser Klarheit festhielten. Warum war das hier anders? Wer hatte solche Aufnahmen zugelassen?
Mit einem leisen Seufzen griff Alina nach einem Glas Wasser und nahm einen Schluck, bevor sie zum forensischen Bericht überging. Das Opfer, ein hochrangiger Regierungsbeamter namens Malverin Strath, war mit solcher Gewalt getötet worden, dass die Ermittler davon ausgingen, dass nur ein übermenschliches Wesen wie ein Werwolf dafür verantwortlich sein konnte. Doch die Wunden des Opfers ließen Alina innehalten. Die Schnitte und Risse waren unregelmäßig, fast chaotisch, als wären sie von einer Klinge verursacht worden – nicht von Klauen oder Zähnen. Es war ein Detail, das nicht zu dem Bild passte, das die Akten von Kael zeichneten.
Sie fuhr sich mit den Fingern über die Schläfen. Die Beweise fühlten sich an wie ein Puzzle, bei dem die Teile nicht zusammenpassten. Oder schlimmer: als hätte jemand absichtlich die Teile vertauscht.
Ein leises Summen unterbrach ihre Gedanken. Alina blickte auf den Bildschirm des Kommunikationsgeräts an der Wand, wo das Gesicht ihrer Assistentin Elysia erschien. Die junge Frau hatte dunkle Haare, die streng aus dem Gesicht zurückgebunden waren, und ihre Augen, sonst ruhig und professionell, wirkten jetzt beunruhigt.
„Frau Leroux“, begann Elysia, ihre Stimme ruhig, aber mit einem Unterton von Unsicherheit, „ich habe versucht, auf die erweiterten Fallinformationen im zentralen Justizdatenbanksystem zuzugreifen. Es scheint, als wären einige der relevanten Dateien... gesperrt.“
Alina richtete sich auf, ihre Augen verengten sich. „Gesperrt? Von wem?“
„Das ist unklar“, antwortete Elysia zögernd und wich ihrem Blick aus. „Die Sperren sind ungewöhnlich und tragen keine Signatur. Die Verschlüsselung deutet darauf hin, dass es sich um besonders sensible Regierungsangelegenheiten handelt.“
Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich in Alinas Nacken aus. „Das bedeutet, dass jemand nicht will, dass wir zu tief graben“, murmelte sie mehr zu sich selbst. Dann, lauter: „Gibt es einen Weg, die Sperren zu umgehen?“
Elysia zögerte merklich, bevor sie antwortete. „Theoretisch ja, aber jede unautorisierte Aktivität würde sofort bemerkt. Die Konsequenzen könnten... schwerwiegend sein.“
Alina betrachtete ihre Assistentin scharf und bemerkte für einen Moment ein flüchtiges Zucken an ihrem Mundwinkel. Hielt sie etwas zurück? Oder war es nur Angst? Sie lehnte sich langsam zurück und verschränkte die Finger. „In Ordnung, Elysia. Lassen Sie es für jetzt ruhen, aber bleiben Sie dran. Informieren Sie mich, sobald sich etwas ändert.“
„Natürlich, Frau Leroux.“ Mit einem leisen Summen verschwand das Bild von Elysias Gesicht, doch die Unruhe blieb.
Alina ließ den Blick über die Akten vor sich wandern. Es war nicht nur eine Frage von fehlenden Puzzleteilen – jemand hatte offensichtlich entschieden, dass sie die Wahrheit nicht finden sollte. Kaels kryptische Warnungen schienen plötzlich nicht mehr so kryptisch, sondern verstörend real.
Ihr Blick blieb an den Fotos vom Tatort hängen. Etwas daran, in den Schatten des Hintergrunds, ließ sie innehalten. Sie griff nach einem der Bilder und hielt es näher ans Licht. Da war etwas – eine Form, schemenhaft, fast verborgen. Es war kein Mensch, da war sie sicher. Aber es war auch kein Werwolf. Die Konturen waren unnatürlich, fast... verzerrt.
Ein Schauer durchlief sie. Das Kribbeln unter ihrer Haut kehrte zurück, stärker als zuvor, als ob etwas in ihrem Inneren auf diese Entdeckung reagierte. Ihre Finger zitterten leicht, als sie das Bild ablegte und tief durchatmete. Sie musste rational bleiben. Sie war Anwältin. Sie arbeitete mit Fakten, nicht mit Gefühlen oder Vermutungen.
Doch als sie ihre Augen wieder öffnete und die Beweise vor ihr betrachtete, konnte sie nicht leugnen, dass die Fakten in diesem Fall mit jeder Stunde weniger Sinn ergaben – und das beunruhigte sie mehr, als sie zugeben wollte.
Alina ließ sich tiefer in den Stuhl sinken und blickte zur Uhr an der Wand. Es war spät, doch Ruhe schien unmöglich. Irgendwo in diesem Fall lag eine Wahrheit verborgen, und sie würde sie finden. Egal, wie tief sie graben musste.