Kapitel 3 — Das Geheimnis des Halbmonds
Sophie
Die schweren Eichentüren der Bibliothek des Klosters Reichenau öffneten sich mit einem leisen Knarren, als Sophie eintrat. Der vertraute Geruch von altem Papier, Tinte und Lederbanden umfing sie sofort, doch heute schien er von einer unheimlichen Schwere durchzogen zu sein. Die Atmosphäre war dichter, als ob die Luft selbst die Geheimnisse des Ortes bewahren wollte. Die bleiverglasten Fenster warfen bunte Lichtmuster auf die polierten Holztische, doch die Farben wirkten gedämpft, fast wie von einem Schleier bedeckt. Sophie spürte, wie ihre Schritte auf dem kühlen Steinboden leise widerhallten, und ein eigenartiges Kribbeln durchzog ihren Körper.
Ihr Anhänger, verborgen unter ihrem Schal, fühlte sich heute schwerer an als sonst. Es war, als würde er auf etwas in den Tiefen der Bibliothek reagieren. Sophie strich sich eine lose Strähne aus dem Gesicht und atmete tief durch. Sie war hier, um Antworten zu finden – Antworten, die sie brauchte, um die beunruhigenden Träume und die wachsende Verbindung zwischen dem Fluch und ihrem Halbmond-Anhänger zu verstehen.
Dr. Friedrich Weber, der Leiter der Bibliothek, saß wie gewöhnlich hinter dem Empfangstresen. Seine grauen Augen, hinter einer schmalen Brille verborgen, fixierten sie, doch ein warmes Lächeln milderte die Strenge seines Blickes.
„Ah, Frau Keller“, begrüßte er sie mit ruhiger Stimme. „Ich hatte schon das Gefühl, dass Sie heute vorbeischauen würden. Es liegt Entschlossenheit in Ihrem Blick. Wonach suchen Sie denn diesmal?“
Sophie zögerte einen Moment. Es fiel ihr schwer, die richtigen Worte zu finden. „Ich… ich habe in letzter Zeit seltsame Träume gehabt“, gestand sie schließlich. Ihre Stimme klang fest, doch innerlich kämpfte sie gegen die Unsicherheit an. „Und ich glaube, dass sie… mit Alex und dem Fluch zusammenhängen könnten. Gibt es etwas Neues in den Archiven? Irgendetwas, das ich übersehen haben könnte?“
Dr. Webers Stirn legte sich in Falten. Er lehnte sich zurück und betrachtete sie mit nachdenklichem Ausdruck. „Träume sagen Sie? Hm… manchmal spiegeln sie Dinge wider, die wir vielleicht nicht verstehen wollen. Aber es ist interessant, dass Sie das erwähnen. Vor Kurzem wurden tatsächlich einige alte Manuskripte entdeckt – in einer versteckten Kammer hinter einem der ältesten Regale.“
Sophie horchte auf. Die Erwähnung der Manuskripte ließ eine Mischung aus Spannung und Unruhe in ihr aufsteigen.
„Die Texte sind äußerst alt, Frau Keller, und in einer Sprache verfasst, die sich nur schwer entziffern lässt. Aber… vielleicht finden Sie darin etwas, das Ihnen weiterhilft. Folgen Sie mir.“
Er führte sie durch die hohen Regalreihen, vorbei an verschlossenen Glasvitrinen, in denen Manuskripte sorgsam aufbewahrt wurden. Die vertraute Umgebung hätte sie normalerweise beruhigt, doch heute war es anders. Der Raum schien lebendig, die Schatten an den Wänden schienen sich mit ihren Bewegungen zu verändern. Der Anhänger an ihrem Hals reagierte spürbar – die Wärme, die von ihm ausging, wurde intensiver, beinahe pulsierend.
Dr. Weber hielt schließlich vor einer massiven Holztür inne. Mit einem schweren Schlüssel, der an einer Kette um seinen Hals hing, öffnete er sie und ließ Sophie eintreten. Der Raum dahinter war klein, fast klaustrophobisch, mit einem einzigen Tisch in der Mitte und dünnen Regalen, die von alten Pergamentrollen und Büchern überquollen. Die Luft war kühl und trocken, doch ein Hauch von Moder lag darin, der Sophie eine Gänsehaut über den Rücken jagte.
„Das sind die Manuskripte, von denen ich sprach“, erklärte Dr. Weber und deutete auf einen unsortierten Stapel auf dem Tisch. „Ich war noch nicht in der Lage, sie alle zu prüfen, aber ich bin sicher, dass Sie vorsichtiger damit umgehen als die meisten anderen. Wenn Sie etwas finden, das von Bedeutung sein könnte, lassen Sie es mich wissen.“
Sophie nickte, zog ihre Handschuhe aus der Tasche und setzte sich an den Tisch. Sie griff vorsichtig nach der obersten Rolle und entrollte sie auf dem samtbezogenen Tisch. Die Schrift darauf war eine Mischung aus Latein und einer Sprache, die ihr fremd war – die Buchstaben wirkten wie verschlungene Symbole, in denen sich Jahrhunderte alter Magie zu verbergen schienen.
Mit ihrer Lupe begann sie, die Worte Stück für Stück zu entziffern. Dabei erfasste sie ein seltsames Gefühl – als würde sie nicht nur lesen, sondern auch etwas tief in sich spüren. Es war, als ob die Worte auf dem Pergament mit ihrem Anhänger in Resonanz standen.
Die Stunden vergingen. Die Kerzen im Raum flackerten, und die Schatten an den Wänden schienen sich zu bewegen, als hätten sie ein Eigenleben. Sophie war so vertieft in ihre Arbeit, dass sie das leise Knarren der Tür zunächst nicht bemerkte. Erst ein kalter Luftzug ließ sie aufblicken. Ihre Augen suchten den Raum ab, doch sie war allein. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.
Dann fiel ihr Blick auf ein Manuskript, das anders aussah als die anderen. Ihre Hände zitterten leicht, als sie es entrollte. Die Zeichnungen darauf zeigten einen Kreis, der von Symbolen umgeben war – Symbole, die sie vage erkannte. Im Zentrum des Kreises war ein silberner Halbmond abgebildet, identisch mit dem Anhänger, den sie trug.
Sophie stockte der Atem. Die Worte beschrieben ein Ritual – ein gefährliches und verbotenes Ritual, das die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Geister zu öffnen vermochte. Sie las weiter, ihre Augen huschten über die Zeilen. Das Ritual sprach von einer Seele, die gefangen war, und von der Möglichkeit, sie zu befreien – oder sie unwiderruflich zu zerstören.
„Alex…“, flüsterte sie. Das Gewicht des Anhängers an ihrem Hals schien unerträglich zu werden. Die Träume, die Wärme des Anhängers, diese Texte – sie alle waren miteinander verbunden. Doch warum jetzt? Und wer wollte, dass sie das alles herausfand?
Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Es war leise, fast wie ein Knistern, doch es kam von den Schatten in der Ecke des Raumes. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Doch als sie den Raum absuchte, war niemand zu sehen. Ihre Unruhe wuchs.
Dr. Webers Stimme ließ sie aufblicken. Er stand in der Tür, seine Stirn in Falten gelegt. „Haben Sie etwas gefunden?“ fragte er, seine Stimme ruhig, doch besorgt.
Sophie hielt ihm das Manuskript entgegen. „Es beschreibt ein Ritual, Dr. Weber. Und ich glaube, mein Anhänger ist damit verbunden. Können Sie mir mehr darüber sagen?“
Er nahm das Pergament und las einige Momente schweigend. Schließlich legte er es zurück auf den Tisch und sah sie an. „Das ist… beunruhigend. Ich fürchte, ich weiß nicht genug darüber, um Ihnen zu helfen. Aber ich werde versuchen, mehr herauszufinden. Sie sollten vorsichtig sein, Frau Keller. Solche Dinge ziehen oft die falschen Leute an.“
Seine Worte hinterließen einen bleibenden Eindruck. Sophie sammelte ihre Notizen und Manuskripte und verließ schließlich die Bibliothek. Doch kaum hatte sie das Klostergelände verlassen, spürte sie erneut, dass sie beobachtet wurde.
Eine hochgewachsene Gestalt tauchte vor ihr auf. Der Mann, mit dunklem Haar und stechenden grauen Augen, lächelte höflich.
„Verzeihen Sie, darf ich mich vorstellen?“ Seine Stimme war tief und melodisch. „Mein Name ist Damian. Ich beschäftige mich mit alten Mythen und Legenden. Was haben Sie in der Bibliothek entdeckt?“
Sophie wich einen Schritt zurück. „Ich arbeite an einem Restaurierungsprojekt“, antwortete sie knapp, ihre Stimme beherrscht, doch innerlich schrillten alle Alarmglocken.
Damian nickte langsam. „Faszinierend. Dann haben wir sicher einiges gemeinsam. Vielleicht können wir uns einmal austauschen.“
Er verneigte sich leicht und verschwand in der Dunkelheit. Sophie blieb einen Moment reglos stehen, ihr Herz schlug schneller. Sie hielt den Anhänger fest in ihrer Hand, spürte die Wärme – und wusste, dass ihre Begegnung mit Damian kein Zufall gewesen war.