Kapitel 2 — Die Rückkehr der Schatten
Sophie
Der Abend begann mit einem sanften Orange, das über den Horizont des Bodensees kroch und die ersten Sterne am Himmel entfalten ließ. Sophie saß an einem der äußeren Tische eines kleinen Restaurants, dessen Terrasse direkt am Wasser lag. Die Lichter der umliegenden Laternen spiegelten sich auf der glatten Oberfläche des Sees, und der schwache Geruch von Gegrilltem und frischen Kräutern lag in der Luft. Eine sanfte Brise wehte über die Terrasse, ließ das Wasser leicht kräuseln und trug eine melancholische Ruhe mit sich, die Sophie dennoch nicht zu beruhigen vermochte.
Lukas saß ihr gegenüber, sein Lächeln warm, doch seine Augen drückten eine Sorge aus, die Sophie nicht übersehen konnte. Er hatte eine entspannte Haltung angenommen, doch seine Finger trommelten unruhig auf die Tischplatte – ein verräterisches Zeichen, das zeigte, dass er sich weit weniger gelassen fühlte, als er vorgab.
In den letzten Wochen hatte Sophie sich zu sehr in sich selbst zurückgezogen. Lukas’ Einladung zum Abendessen war eine freundliche Geste, die sie nicht hatte ablehnen können, obwohl sie sich innerlich zerrissen fühlte. Die Träume, die unerklärliche Wärme des Halbmond-Anhängers und diese wachsende Unruhe in ihrem Herzen machten es ihr schwer, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Doch Lukas versuchte es auf seine eigene, geduldige Weise.
„Du wirkst abwesend“, sagte er schließlich, während er seine Gabel langsam auf den Teller legte. Seine blauen Augen suchten die ihren, und in seinem Blick lag mehr als nur Neugier. „Ist alles in Ordnung?“
Sophie zögerte, ihre Finger spielten unruhig mit der Serviette vor ihr. Sie wollte ihm antworten, wollte ihm von den Träumen und ihren Gedanken erzählen, doch die Worte blieben in ihrem Hals stecken. Stattdessen zwang sie sich zu einem Lächeln, das kaum ihre Augen erreichte. „Es ist nur die Arbeit. Diese Manuskripte – manchmal verliert man sich in den Details und merkt nicht, wie spät es ist.“
Lukas ließ sich von ihrer Ausrede nicht täuschen. Seine Stirn legte sich in Falten, und er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Das klingt nicht überzeugend, Sophie. Du weißt, du kannst mit mir reden, oder? Ich meine… wirklich reden.“
Sophie spürte, wie ein schwacher Anflug von Schuld sich in ihrer Brust regte. Er war immer an ihrer Seite gewesen, besonders nach den schmerzhaften Ereignissen, die sie beide geprägt hatten. Doch wie konnte sie ihm erklären, dass sie von Visionen eines Toten heimgesucht wurde? Dass sie das Gefühl hatte, eine Gefahr lauerte, ohne zu wissen, was diese Gefahr eigentlich war?
„Ich weiß, Lukas“, antwortete sie schließlich leise. „Aber manchmal… braucht es Zeit, um die richtigen Worte zu finden.“
Lukas nickte, als akzeptiere er widerwillig ihre Antwort, obwohl sie beide wussten, dass das Gespräch nicht wirklich beendet war. Er nahm einen Schluck aus seinem Glas, bevor er erneut das Wort ergriff. „Ich habe darüber nachgedacht, in den nächsten Monaten ein Restaurierungsprojekt in der Stadt zu starten. Die alte Mühle am Fluss... sie verfällt zusehends. Es wäre schön, sie wieder instand zu setzen.“
Sophie zwang sich, sich auf seine Worte zu konzentrieren, und nickte. „Das klingt nach einer großartigen Idee. Du bist gut in solchen Dingen, Lukas.“
„Danke.“ Ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, doch es erreichte seine Augen nicht. Er ließ den Blick zum See schweifen, wo das Licht der Sterne auf der ruhigen Wasseroberfläche glitzerte. „Aber ich mache mir auch Sorgen. Um dich, Sophie. Es hat sich etwas verändert. Du warst die letzten Wochen so… lebendig. Und jetzt wirkst du wieder so… verschlossen.“
Seine Worte trafen sie wie ein sanfter, aber bestimmter Schlag. Sie wollte widersprechen, wollte behaupten, dass alles in Ordnung war, doch die Wahrheit war, dass sie sich selbst nicht sicher war. Die Träume, die seltsame Energie des Anhängers, die vage, aber allgegenwärtige Warnung – es war, als ob etwas Dunkles langsam seinen Schatten über sie warf.
„Es tut mir leid, Lukas“, sagte sie schließlich, ihre Stimme fast ein Flüstern. „Manchmal... ist es schwer, sich der Vergangenheit zu stellen.“
Er legte seine Hand über ihre, seine Berührung warm und beruhigend. „Du musst das nicht allein tun, Sophie. Das weißt du, oder?“
Ihre Augen ruhten einen Moment auf seiner Hand, und sie wollte ihm glauben. Doch bevor sie antworten konnte, zog ein kühler Wind über die Terrasse, und Sophie fröstelte. Es war eine seltsame Kälte, die nicht nur ihre Haut, sondern auch ihre Gedanken durchdrang. Sie zog ihre Hand zurück und blickte sich unbehaglich um. Nichts schien ungewöhnlich, und doch spürte sie plötzlich eine Präsenz – etwas im Schatten, etwas, das sie beobachtete.
„Sophie?“, fragte Lukas besorgt, doch sie schüttelte nur den Kopf.
„Es ist nichts“, log sie und versuchte, das Gefühl abzuschütteln. Doch die Unruhe blieb.
***
Später, als Sophie auf dem Heimweg war, konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, verfolgt zu werden. Der schmale Weg durch das Stadtzentrum war fast menschenleer, die Straßenlaternen warfen lange, unheimliche Schatten auf das Kopfsteinpflaster. Ihre Schritte hallten in der Stille, und sie spürte, wie sich die Härchen auf ihren Armen aufstellten. Es war nicht nur Paranoia – sie war sich sicher, dass jemand in der Dunkelheit lauerte.
Ein Blick über die Schulter zeigte nichts. Nur die leeren Straßen und das schwache Flackern einer Laterne, deren Licht fast erloschen war. Sie beschleunigte ihre Schritte, ihre Hand schloss sich um den Anhänger an ihrem Hals, der erneut eine seltsame Wärme auszustrahlen schien. Die Energie strömte durch ihre Finger, ein seltsamer Kontrast zu der eisigen Luft um sie herum, und ließ ihre Gedanken rastlos zwischen Angst und einer undefinierbaren Erwartung schweifen.
Als sie schließlich ihre Wohnungstür erreichte und den Schlüssel ins Schloss steckte, warf sie einen letzten Blick zurück. Im schwachen Licht der Straße meinte sie, eine Gestalt zu sehen – hochgewachsen, mit dunklem Haar und einer Haltung, die sowohl Anmut als auch Bedrohung ausstrahlte. Ein undeutliches Schimmern in den stechenden Augen der Gestalt ließ ihre Kehle trocken werden. Doch als sie blinzelte, war die Gestalt verschwunden.
Sophie trat hastig ein, schloss die Tür und drehte den Schlüssel zweimal um. Sie lehnte sich gegen das kalte Holz und atmete tief durch. Was auch immer das war, es ließ sie nicht los.
***
Zur gleichen Zeit betrat ein Mann mit stechenden grauen Augen den Gasthof „Zum Silbermond“. Sein Mantel war schwer vom Tau, der sich über die Nacht gelegt hatte, und seine Bewegungen waren ruhig, aber zielgerichtet. Die Gespräche der Gäste verstummten langsam, und die Wirtin hinter der Theke warf ihm einen misstrauischen Blick zu.
„Ein Zimmer, bitte“, sagte der Mann, seine Stimme tief und ruhig, aber mit einem Unterton, der das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Die Wirtin zögerte, bevor sie ihm einen Schlüssel überreichte. „Zimmer drei, oben links“, murmelte sie, ihre Augen wanderten nervös zu seinen Händen, die in schwarzen Lederhandschuhen steckten.
„Danke“, sagte der Mann knapp und verschwand die Treppe hinauf. Seine Schritte waren kaum zu hören, und es war, als würde seine Präsenz einen Schatten über den Raum werfen, der auch nach seinem Verschwinden blieb.
Oben in Zimmer drei setzte sich Damian auf die Bettkante. Seine Lippen zogen sich zu einem schmalen Lächeln, als er einen Moment innehielt. Die Nacht war jung, und er wusste, dass sein Ziel ganz in der Nähe war.
Er zog eine kleine, seltsam geformte Münze aus seiner Tasche und ließ sie zwischen den Fingern rotieren. Das Licht der Kerze tanzte auf der Oberfläche der Münze, die ein Symbol trug, das Sophie nur zu gut kannte: den silbernen Halbmond.
„Bald“, flüsterte er in die Dunkelheit und ließ seine grauen Augen aufblitzen, bevor er die Kerze auf dem Nachttisch ausblies.