reader.chapter — Im Schatten der Vergangenheit
Ich-Perspektive (Elena)
Es gibt diese Momente, in denen die Welt sich anfühlt, als würde sie stillstehen, während man selbst weiterläuft, das Herz gegen die Rippen schlägt und der Geist unaufhörlich arbeitet. Heute war so ein Tag.
Die sanften Akkorde des Klaviers hallten durch den Ballettsaal, jedes Tastenspiel so vertraut wie ein Atemzug. Das leise Schleifen meiner Spitzenschuhe über den abgenutzten Holzboden begleitete die Musik, ein Zusammenspiel, das fast mechanisch wirkte. Der Geruch von Kreide und Leder hing schwer in der Luft, ein vertrauter Trost, der jedoch nicht ausreichte, die Unruhe in mir zu vertreiben.
Vor den Spiegelwänden sah ich mich selbst, aufrechte Haltung, die Drehung meiner Pirouette präzise – zumindest für den Betrachter. Doch meine Augen erzählten eine andere Geschichte. Sie waren leer, verloren, als hätten sie in eine Vergangenheit geblickt, die ich längst hinter mir lassen wollte.
Elisas strenge Stimme schnitt durch die konzentrierte Stille. „Elena! Präzision! Deine Drehung verrät mich. Noch einmal!“
Ich nickte, obwohl meine Kehle sich zuschnürte. Elisa hatte recht. Meine Bewegungen waren exakt, aber ohne Seele. Der Tanz war seit jeher mein Rückzugsort, eine Zuflucht, in der ich Kontrolle finden konnte, selbst wenn die Welt um mich herum im Chaos versank. Doch heute war selbst das nicht genug.
Meine Gedanken drifteten zu dem Traum, der mich in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf gerissen hatte. Es war kein gewöhnlicher Traum gewesen, sondern ein Flimmern aus verblassenden Schatten und Stimmen, deren Klänge mir immer noch in den Ohren lagen. Ich sah Sophias Lächeln, warm, zärtlich – und im nächsten Augenblick verschwand es im Rauch. Ich hatte geschrien, aber kein Laut war über meine Lippen gekommen, und ich erwachte mit einem schweißnassen Gesicht und klopfendem Herzen.
„Elena!“ Elisas Stimme war diesmal härter, bohrender. „Wenn du mit deinem Kopf nicht hier bist, kannst du genauso gut nach Hause gehen. Der Tanz verzeiht keine Abwesenheit.“
Ich hielt inne, zwang mich zu einem tiefen Atemzug. Meine Muskeln spannten sich an, als müsste ich mich gegen unsichtbare Fesseln wehren. „Entschuldigung, Elisa. Nur noch einmal.“
Ihr Blick ruhte auf mir, scharf und prüfend. Für einen Moment dachte ich, sie würde mehr sagen, doch schließlich nickte sie nur, ihre Lippen pressten sich zu einer schmalen Linie.
Ich setzte erneut an. Mein Körper bewegte sich, doch mein Geist war woanders. Arabesque, Jeté, Pirouette – jede Bewegung präzise und doch wie ein Schatten ihrer selbst. Gerade als ich die letzte Drehung vollendete, vibrierte mein Handy auf der Bank an der Wand, unterbrach die fließende Illusion.
Normalerweise hätte ich es ignoriert, doch ein seltsames, schweres Gefühl zog mich dorthin. Ohne Elisa einen Blick zuzuwerfen, eilte ich hinüber und griff nach dem Gerät.
Kein Name, keine Nummer. Nur ein leeres Display, das unaufhörlich vibrierte. Mein Finger zitterte, als ich zögernd auf den grünen Hörer drückte. „Hallo?“
Stille. Nicht einmal das leise Rauschen einer Verbindung, nur eine bedrückende, unheimliche Leere.
„Wer ist da?“ Meine Stimme war schärfer, als ich beabsichtigt hatte, eine Mischung aus Angst und aufkeimendem Zorn. Kein Wort drang durch die Stille, und dann, plötzlich, das monotone Tuten – die Verbindung war unterbrochen.
„Alles in Ordnung?“ Elisas Stimme hinter mir ließ mich zusammenzucken. Sie stand näher, als ich erwartet hatte, ihre Augen suchten mein Gesicht mit einem Ausdruck, der mehr Sorge als Strenge zeigte.
„Ja, nur ein falscher Anruf.“ Ich zwang mich zu einem Lächeln, das sich anfühlte wie ein zu eng geschnürtes Korsett. Doch in mir wusste ich, dass es das nicht war.
Der Schatten dieses Anrufs blieb, selbst als ich zurück zur Tanzfläche ging. Ich zwang meinen Körper, weiterzumachen – ein mechanischer, unaufhaltsamer Strom von Bewegungen, die mich von meiner tobenden inneren Unruhe abzulenken schienen. Doch selbst das half nicht.
Bilder aus meiner Kindheit drängten sich in mein Bewusstsein, ungebetene Erinnerungen, die ich so lange verdrängt hatte. Die flüsternden Stimmen meiner Eltern hinter verschlossenen Türen. Der Geruch von Zigarettenrauch, der die Luft im Haus wie ein stiller Beobachter erfüllte. Und Sophia, die viel zu jung war, um zu verstehen, was in den Schatten unserer Familie geschah.
„Elena.“ Elisas Stimme holte mich in die Gegenwart zurück. Sie sah mich an, und ihr Blick war durchdringend, als könnte sie die Geister sehen, die mich umgaben. Doch sie sagte nichts mehr.
Als ich schließlich den Ballettsaal verließ, empfing mich die Kälte der Stadt wie ein Echo auf meine eigenen Gedanken. Der Wind zerrte an meinem Mantel, trug den Geruch von Regen und Abgasen mit sich, während die Straßenlaternen langgezogene Schatten auf den glänzenden Asphalt warfen.
Ich ging schnell, doch ein beklemmendes Gefühl folgte mir auf Schritt und Tritt. Immer wieder wandte ich den Kopf, spähte in die Dunkelheit zwischen den Gebäuden. Nichts. Niemand. Nur die Stadt, die in ihrem unaufhörlichen Rhythmus lebte.
Hinter der Tür meiner Wohnung ließ ich mich gegen das kühle Holz sinken. Meine Hände zitterten, und ich schloss die Augen, in der Hoffnung, die Dunkelheit in mir stumm zu stellen. Doch es half nichts.
Ein Summen ließ mich aufschrecken. Mein Handy, das auf dem Küchentisch lag, vibrierte erneut. Dieselbe unbekannte Nummer. Mein Herz setzte einen Schlag aus, bevor es mit unbarmherziger Wucht lospolterte.
Langsam griff ich nach dem Gerät, die Angst in meiner Brust ein schwerer Knoten. Das Flackern des Displays war das einzige Licht im Raum. Mit zitternden Fingern nahm ich den Hörer ab. „Wer ist da?“
Diesmal war da ein Flüstern. Unverständlich, wie das Streichen von Stoff über Stein, doch ich hörte es. Mein Griff um das Handy wurde fester, als ich näher an das Gerät heranrückte. „Sprechen Sie oder hören Sie auf, mich zu belästigen!“
Ein Atemzug. Schwer, unheimlich – und dann, bevor die Leitung erneut getrennt wurde, ein einziges Wort.
„Sophia.“
Das Handy fiel mir aus der Hand und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Parkett. Mein Blick war starr auf das schwarze Display gerichtet, mein Atem flach und unregelmäßig. Sophia. Meine Schwester. Der Name, der alles in mir zum Stillstand brachte.
Und doch wusste ich, ohne Zweifel, dass sich etwas geändert hatte. Der Schatten der Vergangenheit hatte mich eingeholt – und dieser Schatten trug den Namen meiner Schwester.