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Liebesromane an einem Ort

reader.chapterDas Verschwinden


Ich-Perspektive (Elena)

Der Morgen war grau, und die Stadt wirkte noch unbarmherziger als sonst. Ein feiner Nieselregen fiel, benetzte die Straßen und ließ die Lichter der Autos wie verwischte Schlieren erscheinen. Der Geruch von nassem Asphalt mischte sich mit dem säuerlichen Duft von Müll, der in der Kälte der Luft hing. Ich lief schneller als gewöhnlich, meine Kapuze fest über den Kopf gezogen, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben. Der Anruf vom Vorabend hatte mich nicht losgelassen, und die letzte Nacht war nicht mehr als ein rastloser Wechsel zwischen Wachliegen und unruhigem Schlaf gewesen.

Sophia.

Ihr Name hallte wie ein Echo in meinem Kopf wider, ein vertrauter und doch so fremder Klang. Es waren Jahre vergangen, seit wir zuletzt in Frieden miteinander gesprochen hatten, seit ich ihr Lächeln wirklich gesehen hatte. Was auch immer zwischen uns stand – Schuld, Distanz, die Schatten unserer Familie –, es war jetzt nebensächlich. Der Anruf hatte etwas in mir ausgelöst, das ich nicht mehr ignorieren konnte.

Wieder und wieder wählte ich ihre Nummer, während ich durch die Straßen ging, doch es gab keine Antwort. Nur dieses endlose Tuten, das mich das Schlimmste befürchten ließ.

Vor ihrer Wohnung angekommen, hielt ich inne. Das heruntergekommene Gebäude erhob sich wie ein stiller Zeuge des Verfalls. Der Regen rann an den Fensterscheiben entlang, der graue Putz war an mehreren Stellen abgeplatzt, und die Eingangstür quietschte leise im Wind. Mein Herz schlug schneller. Die Fassade des Hauses schien eine düstere Warnung auszusprechen, doch ich ignorierte sie.

Ich stieg die Treppe hinauf, meine Schritte hallten in dem stillen Treppenhaus. An Sophias Tür angekommen, zögerte ich. Mein Atem ging flach, während ich auf den schwarzen Fleck an der Wand neben der Tür starrte – ein verwischter Handabdruck, als hätte jemand sich dort abgestützt. Für einen Moment beschäftigte mich die absurde Hoffnung, dass all meine Sorgen unbegründet sein könnten. Vielleicht war sie einfach nicht zu Hause, vielleicht war alles nur ein Missverständnis.

Doch als ich an die Tür klopfte und keine Antwort erhielt, wusste ich, dass ich mich selbst belog. „Sophia?“ Meine Stimme klang leiser, als ich beabsichtigt hatte, beinahe flehend. Keine Antwort.

Ich griff nach der Türklinke und drückte sie herunter. Sie war nicht abgeschlossen. Ein eisiger Schauer lief mir über den Rücken, als die Tür langsam aufschwang.

Die Wohnung war still. Zu still. Eine bedrückende Leere hing in der Luft, wie der Moment vor einem Sturm. Der vertraute Geruch nach Sophias blumigem Parfum war da, doch er schien von etwas anderem überdeckt zu werden – eine Spur von Rauch oder Staub, die meine Nase reizte. „Sophia?“ rief ich erneut, während ich hineintrat.

Das Chaos war das Erste, was mir auffiel. Der kleine Tisch im Eingangsbereich, auf dem sie immer ihre Schlüssel ablegte, war leer. Die Sofakissen lagen unordentlich auf der Couch, als wären sie hastig zur Seite geworfen worden. Auf dem Boden lag ein zerbrochenes Glas, dessen Scherben im schwachen Licht wie kleine Messer glitzerten. Ein Fotobuch lag halb offen auf dem Teppich, die Seiten zerknittert. Ich kniete mich hin und sah ein Bild von uns beiden, aufgenommen in einer Zeit, die fast unwirklich schien. Sophia lächelte darauf, ihr Gesicht voller Leben. Der Anblick schnürte mir die Kehle zu.

Mein Herz raste, während ich die Wohnung durchsuchte. Das Schlafzimmer war unaufgeräumt, die Bettdecke halb auf den Boden gezogen. Ihr Schrank stand offen, einige Kleidungsstücke fehlten, doch nicht genug, um auf eine geplante Abwesenheit hinzudeuten. Es fühlte sich an, als wäre sie überstürzt gegangen – oder gezwungen worden.

Im Wohnzimmer blieb ich abrupt stehen. Auf dem kleinen Couchtisch lag etwas, das meinen Blick sofort fesselte. Ein Schlüssel. Er glänzte matt im schwachen Licht, und als ich ihn aufhob, fiel mir das Emblem ins Auge: ein filigraner Schriftzug, der sich über den Schlüsselkopf zog – das Symbol des Nachtclubs „Inferno“.

Meine Finger schlossen sich fester um das Metall, während eine Welle von Erinnerungen mich überrollte. Das Inferno. Der Ort, den ich aus tiefstem Herzen gemieden hatte, der Inbegriff all dessen, was ich hinter mir lassen wollte. Bilder flackerten vor meinem inneren Auge auf – dunkle Gänge, rote Samtvorhänge, die geschlossenen Gesichter der Männer, die dort ein- und ausgingen. Und mein Vater, wie er mich warnte, niemals dorthin zurückzukehren.

Mir wurde kalt, und meine Hand begann zu zittern, als ich den Schlüssel betrachtete. „Sophia, was hast du getan?“ flüsterte ich, meine Stimme kaum mehr als ein Hauch.

Ich suchte weiter, durchstöberte Schubladen und Schränke, aber alles, was ich fand, waren Kleinigkeiten – eine halb geleerte Tasse Kaffee, ein zerknüllter Zettel, der unter dem Couchtisch hervorlugte. Als ich ihn aufhob und entfaltete, stockte mir der Atem. Es war eine hastig geschriebene Notiz, die Buchstaben fast unleserlich:

„Elena – falls du das hier findest, komm nicht. Bitte. Es ist zu gefährlich.“

Die Worte brannten sich in mein Bewusstsein ein. Ich las sie immer wieder, konnte sie aber nicht begreifen. Die Warnung drängte sich mir auf, pulsierte in meinem Kopf wie ein Trommelschlag.

Meine Kehle war trocken, als ich mein Handy hervorholte und die Polizei anrief. Ich schilderte die Situation: die leere Wohnung, den Schlüssel, die Notiz. Doch die Stimme am anderen Ende der Leitung war kalt, unbeteiligt. „Wenn Sie Hinweise auf eine Straftat haben, können Sie eine Vermisstenanzeige aufgeben. Ansonsten empfehle ich, abzuwarten.“

„Abwarten?“ fauchte ich, meine Geduld am Ende. „Meine Schwester ist verschwunden! Ihre Wohnung sieht aus, als hätte jemand eingebrochen. Und Sie wollen, dass ich abwarte?“

„Frau Richter, wir können erst nach 48 Stunden eine Vermisstenanzeige aufnehmen. Ohne konkrete Beweise für ein Verbrechen können wir nicht viel tun.“

Ich legte auf, bevor ich etwas sagte, das ich bereuen würde. Meine Hände zitterten vor Wut, und ich drückte den Schlüssel in meiner Faust, bis das Metall schmerzhaft in meine Haut schnitt.

Die Erinnerung an eine frühere Begegnung mit der Polizei durchzuckte mich – der Abend, an dem mein Vater verhaftet wurde. Der Offizier, der mich wie ein Kind behandelt hatte, obwohl ich wusste, was vor sich ging. Die Ohnmacht, die ich damals empfand, kehrte zurück, stärker als je zuvor. Es war klar, dass ich auf mich allein gestellt war.

Der Schlüssel in meiner Hand fühlte sich plötzlich schwerer an, wie ein Symbol für die Tür, die ich öffnen musste, um Antworten zu finden. Meine Gedanken wirbelten, während ich die Wohnung verließ. Die Straßen draußen waren belebter geworden, doch ich fühlte mich seltsam isoliert, als ob die Welt um mich herum in einer anderen Realität existierte.

Ich hielt ein Taxi an und nannte dem Fahrer die Adresse. Mein Ziel war klar, auch wenn ich noch nicht wusste, was mich dort erwarten würde. Das Inferno war kein Ort, an den man leichtfertig ging, und die Erinnerungen an früher krochen wie Schatten in meine Gedanken.

Während das Taxi durch die Straßen raste, presste ich die Hände zusammen und blickte hinaus auf die Stadt, die hinter den Regentropfen verschwamm. Ich dachte an Sophia, an ihr Lachen, das so lange her war, und daran, wie ich sie damals im Stich gelassen hatte. Der Gedanke, sie jetzt erneut zu verlieren, war unerträglich.

Als wir uns dem Viertel näherten, in dem das Inferno lag, spürte ich, wie mein Herz schneller schlug. Der Regen hatte nicht nachgelassen, und die Straßen glänzten wie schwarze Spiegel. Das Gebäude war nicht zu übersehen – eine imposante Fassade aus schwarzem Marmor, eingerahmt von roten Samtbaldachinen, die im Licht der Straßenlaternen wie Blut glänzten.

Ich hielt inne, bevor ich ausstieg. Der Schlüssel in meiner Manteltasche fühlte sich plötzlich wie ein kalter Stein an. Dies war der Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. Doch für Sophia würde ich alles riskieren.

Alles.