reader.chapter — Schatten im Hafen
Anya
Der Regen fiel in einem stetigen Trommeln auf die schmutzigen Pflastersteine des verlassenen Hafens. Dunkle Wolken zogen über den Himmel, verdunkelten die ohnehin schwache Beleuchtung und warfen das verfallene Gelände in einen düsteren Schleier. Die rostigen Gerippe der Kräne erhoben sich wie stumme Wächter in die Nacht, während das ferne Echo von Möwenschreien und der salzige Geruch des Wassers der Szene eine unheilvolle Atmosphäre verliehen.
Anya Volkov stand regungslos in den Schatten eines verfallenen Lagerhauses. Ihre schlanke, athletische Silhouette verschmolz mit der Dunkelheit, während ihre eisblauen Augen durch die dichten Strähnen ihres fast schwarzen Haares auf den leeren Platz vor ihr gerichtet waren. Der Regen rann über ihre Lederjacke, tropfte von ihrer Narbe oberhalb der linken Augenbraue und sammelte sich in kleinen Rinnsalen auf dem Pflaster. Doch sie rührte sich nicht. Solche Dinge störten sie nicht. Nicht mehr.
Ihre rechte Hand lag ruhig auf dem Griff ihrer schallgedämpften Waffe, während die Linke locker an ihrer Seite hing. Jede Faser ihres Körpers war angespannt, jeder Atemzug kontrolliert. Sie war eine Jägerin, die in den Schatten lauerte, und dieser Moment – die Stille vor dem ersten Schlag – war ihr Terrain.
Dann hörte sie ihn. Schritte, die durch die Pfützen platschten, hastig, aber bemüht unauffällig. Ihr Ziel. Ihr Blick folgte dem Mann, ein untersetzter Kerl mit einer Glatze, der einen Mantel trug, der zu teuer für diesen Ort war. Er hielt eine Aktentasche eng an seinen Körper gepresst, als wäre sie mehr wert als sein eigenes Leben. Seine Augen zuckten nervös von Schatten zu Schatten, doch er sah nicht nach oben.
„Amateur“, murmelte Anya kaum hörbar.
Sie hatte sich längst auf einen der rostigen Container hochgezogen, die am Rand des Platzes gestapelt waren, und beobachtete ihn wie ein Raubtier seine Beute. Mit einer präzisen Bewegung zog sie ihre Waffe, prüfte das Gewicht, den Lauf – ein vertrautes Ritual, das ihr die Kontrolle gab. Keine Emotion störte ihre Konzentration. Aufträge wie dieser waren Routine. Aber heute, inmitten des ständigen Trommelns des Regens, spürte sie einen winzigen, störenden Funken an der Oberfläche ihrer Gedanken. Kein Zweifel. Nur… ein Gefühl.
Sie schob es beiseite. Ein sauberer Schuss. Präzise. Tödlich.
Der Mann war tot, bevor sein Körper den kalten Boden berührte.
Anya verharrte regungslos, die Waffe noch erhoben. Sie lauschte. Keine weiteren Schritte. Kein Alarm. Nur das monotone Trommeln des Regens und das entfernte Rauschen des Wassers. Zufrieden ließ sie die Waffe sinken, sprang geschmeidig vom Container und landete geräuschlos.
Mit schnellen, zielgerichteten Schritten erreichte sie den toten Mann. Die Aktentasche war schwer, der Inhalt gut geschützt. Sie öffnete sie nicht – das war nicht ihre Aufgabe. Sie kniete sich nieder, überprüfte den Puls des Mannes – ein Reflex, geprägt von endlosen Einsätzen –, obwohl sie wusste, dass er tot war.
Ein kurzes Zögern. Die Spannung des Moments wich einem Hauch von Leere, wie sie es nach jedem Auftrag empfand. Doch diesmal mischte sich eine vage Unruhe darunter, die sie nicht deuten konnte.
Sie zog ein kleines Telefon aus ihrer Jackentasche. „Der Auftrag ist erledigt“, sagte sie leise, kaum mehr als ein Flüstern. Die Stimme am anderen Ende war ebenso emotionslos. „Komm zum Treffpunkt.“
Der Regen würde die Leiche verbergen und neugierige Blicke fernhalten. Der Hafen war ein Ort, an dem niemand Fragen stellte.
***
Das heruntergekommene Büro, das ihr Mentor seit Jahren nutzte, lag am Rand des Hafens. Es war ein trostloses Gebäude mit abblätterndem Putz und Fenstern, die von dickem Staub bedeckt waren. Der Geruch von abgestandenem Rauch und feuchtem Holz durchdrang die Luft. Eine nackte Glühbirne hing an einem Draht von der Decke und tauchte den Raum in ein unruhiges, gelbliches Licht.
Anya betrat den Raum ohne anzuklopfen. Ihr Mentor saß hinter einem klobigen Schreibtisch aus dunklem Holz, das an den Ecken abgewetzt war. Ein schlanker Mann mit grauem Haar und einem Gesicht voller Linien, das Geschichten von Gewalt und Berechnung erzählte. Seine kalten, dunklen Augen musterten sie. Ein schmales Lächeln spielte um seinen Mund, doch es erreichte nie seine Augen.
„Effizient wie immer“, sagte er und zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch stieg in dünnen Spiralen auf und verfing sich in der schwachen Glühbirne, während er sie beobachtete.
Anya antwortete nicht. Sie legte die Aktentasche auf den Tisch und trat einen Schritt zurück.
Er öffnete die Tasche, zog die Unterlagen heraus und überflog sie. Ein zufriedenes Nicken. Doch als er die Tasche beiseite schob, zeigte sich in seinen Augen ein Besitzanspruch, der sie innerlich zusammenzucken ließ.
„Du bist eine Waffe, Anya. Präzise. Zuverlässig.“ Seine Stimme triefte vor einem Stolz, der sich wie Ketten um sie legte.
Ihre Finger ballten sich unmerklich zur Faust, doch ihre Stimme blieb ruhig. „Hast du einen neuen Auftrag für mich?“
Ein schmales Lächeln kroch über sein Gesicht, während er eine weitere Zigarette aus seiner silbernen Schachtel zog. „Ja“, sagte er langsam, „und dieser ist… von besonderer Bedeutung.“
Er zog eine dünne Akte aus der Schublade seines Schreibtisches und legte sie ohne Eile vor ihr ab. Anya spürte das leise Flattern in ihrer Brust, bevor sie überhaupt den Namen las. Dimitri Sokolov.
Es war nur ein Name, doch für sie war es mehr. Ihre Augen wurden schmal, als sie die Akte öffnete. Ihre Finger zitterten kaum merklich, als sie das erste Foto betrachtete. Es war eindeutig er. Älter. Härter. Doch diese Augen… dieselben Augen, die einst ihre Welt durchdrungen hatten.
„Er ist tot.“ Ihre Stimme war kühl, doch sie klang anders – als ob das Eis einen kleinen Riss bekommen hätte.
„Offenbar nicht“, entgegnete ihr Mentor mit einem Hauch von Ironie. „Und er ist eine Bedrohung. Für uns. Für dich.“
Ein Bild blitzte vor ihrem inneren Auge auf – eine Erinnerung, die sie jahrelang begraben hatte. Sie drängte es sofort zurück. Gefühle hatten hier keinen Platz. „Was soll ich tun?“ fragte sie, ihr Blick noch immer auf das Foto in ihrer Hand gerichtet.
„Eliminiere ihn.“ Seine Stimme war ruhig, aber voller Nachdruck. „Er kennt unsere Methoden, unsere Pläne. Und er kennt dich. Er wird keine Sekunde zögern, dich zu zerstören.“
Sie schloss die Akte, ihre eisblauen Augen fixierten ihn mit einer Kälte, die sie mühsam aufrechterhielt. „Ich brauche mehr Informationen.“
„Alles, was du brauchst, ist darin“, sagte er, während er sich zurücklehnte und ein weiteres Mal an seiner Zigarette zog. „Aber sei vorsichtig, Anya. Er ist nicht wie deine anderen Ziele. Er wird dich erwarten.“
Die Akte in ihrer Hand schien schwerer zu werden, als sie sie an sich nahm. Ein dunkles, unbestimmtes Gefühl nistete sich in ihre Gedanken.
„Ich erledige es“, sagte sie schließlich. Doch ihre Stimme trug eine Schärfe, die selbst sie überraschte.
Als sie die Tür erreichte, sprach er noch einmal. „Und Anya… versag mir nicht.“
Ohne zurückzusehen, trat sie in die regennasse Nacht hinaus. Der Name Dimitri Sokolov flackerte vor ihr wie ein unauslöschliches Feuer. Sie wusste, dass dieser Auftrag anders sein würde.
Die Schatten des Hafens schlossen sich wieder um sie, und Anya verschwand in der Dunkelheit – bereit für die Schlacht, die sie nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich kämpfen würde.