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Liebesromane an einem Ort

reader.chapterFlüstern der Vergangenheit


Anya

Der Regen klopfte monoton gegen die Fenster ihrer kargen Wohnung – ein gleichmäßiger, unbarmherziger Rhythmus, der sich wie ein Echo ihrer Gedanken anfühlte. Anya stand regungslos an der Wand, das kühle, raue Mauerwerk in ihrem Rücken. In ihrer Hand hielt sie ein zerknittertes Blatt Papier. Der Name „Dimitri Sokolov“ war darauf fett gedruckt, als wolle er sie verhöhnen. Ihre eisblauen Augen ruhten auf den Buchstaben, aber sie sah nicht wirklich hin. Vor ihrem inneren Auge zogen Bilder vorbei, flüchtige Fragmente einer anderen Zeit.

Die Wohnung war ein Abbild ihrer selbst: funktional, leer, ohne jegliche Anzeichen von Leben. Ein kleiner Tisch, eine Couch, die als Schlafplatz diente, und ein alter, wackeliger Schrank – alles in neutralen, unscheinbaren Farben. Die Neonlichter der Stadt flackerten durch die dünnen Vorhänge und warfen kaltes, unstetes Licht auf die abgenutzten Wände. Es gab keine Pflanzen, keine Fotos, keine persönlichen Gegenstände. Alles, was hier war, war nötig. Nichts Überflüssiges.

Mit einem Seufzen ließ sie sich auf die Couch sinken. Sie griff nach der Akte, die ihr Mentor ihr gegeben hatte, und öffnete sie. Fotos, Berichte, Zeitungsartikel – ein Mosaik eines Lebens, das sie auslöschen sollte. Doch sie wusste, dass diese Dokumente nur an der Oberfläche kratzten. Sie kannte ihn. Oder sie hatte ihn gekannt.

Ihr Blick fiel auf ein Foto. Dimitri, in einen maßgeschneiderten Anzug gekleidet, mit einem selbstbewussten, beinahe spöttischen Lächeln. Seine grau-grünen Augen – dieselben Augen, die einst etwas anderes getragen hatten – wirkten jetzt wie die eines Jägers, wachsam, berechnend, gefährlich. Unwillkürlich begann ihre Hand das Papier zu zerknüllen, doch sie hielt inne. Sie musste sich auf die Fakten konzentrieren. Alles andere war ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnte.

Ihre Finger suchten den Laptop, der auf dem Tisch lag, und schlugen die Tasten in einem schnellen, methodischen Rhythmus. Die Informationen aus der Akte reichten nicht aus. Das Bild, das sie vervollständigen wollte, hatte Lücken. Es gab dort Dinge, die nicht passten – Spuren, die zu deutlich waren, Daten, die fast absichtlich fehlten. Sie wusste, dass er sie erwartete. Jede neue Information, die sie fand, bestätigte das: Dimitri war kein Mann, der Fehler machte.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie innehalten. Sofort spannte sich ihr Körper an, und ihre rechte Hand glitt wie von selbst zu ihrer Waffe. Sie bewegte sich lautlos zur Tür und spähte durch den Spion. Sasha.

Anya entspannte sich nur ein wenig, bevor sie die Tür öffnete. Sasha trat ein, ihre Bewegungen geschmeidig, doch ihre Augen wanderten wachsam durch den Raum, als suchten sie nach Gefahren. Ihr enger Lederrock und die schwarze Jacke wirkten wie eine zweite Haut, doch unter der stilvollen Fassade war Sasha genauso vorsichtig und misstrauisch wie Anya selbst.

„Anya“, sagte Sasha leise. Ihre Stimme hatte etwas Rauchiges, das in Kombination mit ihrer kühlen Präsenz fast beruhigend wirkte.

„Sasha.“ Anyas Stimme war knapp, beinahe tonlos, als sie die Tür hinter ihr schloss.

Sasha ließ sich auf den einzigen Stuhl im Raum sinken und zog mit einer fließenden Bewegung eine Zigarettenschachtel aus ihrer Tasche. „Du suchst also Informationen“, begann sie, ohne Umschweife.

Anya nickte lediglich und setzte sich wieder auf die Couch.

„Dimitri.“ Sasha sprach den Namen aus, als handle es sich um ein gefährliches Geheimnis. Sie zündete sich eine Zigarette an und stützte ihren Kopf in die Hand, während sie Anya mit einem durchdringenden Blick musterte. „Du weißt, dass er nicht mehr der Mann ist, den du kanntest.“

„Ich brauche keine Sentimentalitäten“, unterbrach Anya scharf, ihre Stimme kalt und kalkuliert.

Sasha lachte leise, ein Ton, der irgendetwas zwischen Amüsement und Bedauern lag. „Natürlich nicht. Aber du solltest wissen, worauf du dich einlässt. Er hat sich verändert. Er ist gefährlicher. Und…“ Sie zögerte, was untypisch für sie war. „Er spricht manchmal von dir.“

Anyas Haltung wurde starr. Ihre Finger ruhten auf der geschlossenen Akte, die sie zur Seite gelegt hatte, ihr Griff fest, aber unauffällig. „Was sagt er?“

„Nichts Genaues. Aber dein Name fällt. Ob mit Zorn oder… mit etwas anderem, das kann ich dir nicht sagen.“ Sasha schnippte die Asche ihrer Zigarette auf den Boden. „Ich weiß nur, dass du ihm nicht egal bist. Und das macht ihn gefährlich.“

Anya schwieg. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft, doch ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Die Möglichkeit, dass Dimitri sie in irgendeiner Weise noch immer im Blick hatte, berührte etwas, das sie tief in sich begraben hatte.

„Du bist verrückt, ihm nachzujagen“, fuhr Sasha fort. „Er hat dich längst eingeplant. Alles, was du tust, spielt in sein Spiel hinein.“

„Ich mache meine eigenen Regeln“, entgegnete Anya ruhig, doch die Härte in ihrer Stimme war unüberhörbar.

„Das glaubst du wirklich, oder?“ Sasha lehnte sich zurück und blies eine rauchige Wolke gen Zimmerdecke. „Dimitri spielt Schach, Anya. Und du? Du kannst noch so gut in diesem Spiel sein – er hat immer einen Zug mehr als du.“

Anya stand auf und ging zum Fenster. Der Regen hatte nachgelassen, doch die Straßen glänzten noch immer feucht im Licht der Lampen. Sie beobachtete die Reflexionen des fahlen Neonlichts in den Pfützen.

„Danke für die Warnung“, sagte sie schließlich.

Sasha erhob sich und trat zur Tür. „Es ist keine Warnung. Es ist ein Wegweiser. Du wirst ihm nicht entkommen.“ Sie zögerte kurz und fügte leise hinzu: „Vielleicht willst du das auch gar nicht.“

Die Tür schloss sich hinter ihr, und Anya war wieder allein. Doch die Worte hallten nach, vermischten sich mit der Stille und den fragmentarischen Erinnerungen, die sie nicht abschütteln konnte. Sie hatte die Akte gelesen, die Muster erkannt, die Lücken gespürt. Und doch war es Sasha gewesen, die etwas in ihr ausgelöst hatte – eine Unruhe, die sie nicht benennen wollte.

Sie zog ihre Lederjacke an, griff nach der Akte und ihrer Waffe. Es gab keinen Grund, länger zu warten. Die Zweifel, die in ihrem Inneren gärten, würden keinen Platz mehr haben, sobald sie Dimitri gegenüberstand.

Mit entschlossenen Schritten betrat sie die regennassen Straßen. Ihr Ziel war klar: der „Nocturne“-Club. Ein Ort, an dem Vergangenheit und Gegenwart aufeinanderprallen würden.

Doch tief in ihrem Inneren fragte sie sich, ob sie wirklich bereit war für das, was kommen würde.