reader.chapter — Spiel mit Masken
Dimitri
Der Regen hatte aufgehört, doch die Tropfen, die auf der Glasfassade seines Penthouse hinabsickerten, klangen wie das leise Klopfen einer Uhr – ein stetiges, unaufhaltsames Erinnern an die Zeit, die verrann. Dimitri Sokolov stand vor den bodentiefen Fenstern, eine Hand lässig in der Hosentasche seines maßgeschneiderten Anzugs, die andere um ein halbvolles Glas Whiskey geschlungen. Die Lichter der Stadt erstreckten sich wie ein Teppich aus Neon und Schatten unter ihm, ein Reich, das er aus den Tiefen des Chaos emporgezogen hatte. Sein Reich.
Doch heute fühlte sich die Aussicht weniger triumphal an. Sie war ein Schachfeld, auf dem er der König war – mächtig, aber nicht unberührbar. Er war derjenige, der die Figuren bewegte, und doch konnte ein einziger falscher Zug alles ins Wanken bringen.
„Sie bewegt sich“, erklang Viktors tiefe, emotionslose Stimme hinter ihm. Dimitri drehte den Kopf leicht zur Seite, ließ den Blick jedoch weiter auf der Stadt ruhen. Viktor war ein Mann, der keine langen Erklärungen abgab – er sprach nur, wenn es notwendig war. Breit gebaut, mit einem Gesicht wie aus Granit und Augen so kalt wie Stahl, war er der Fels, an dem sich viele Wellen brachen. Seine Loyalität war unerschütterlich, aber sie war kalkuliert, nicht sentimental.
„Wohin?“ Dimitris Stimme war ruhig, doch der stählerne Unterton verriet, dass er keine Nachlässigkeit duldete.
„Zum ‚Nocturne‘. Genau wie du vermutet hast.“ Viktors Schritte waren kaum hörbar, doch das leise Knarzen seines Ledermantels begleitete ihn, als er näher trat. Die gedämpften Klänge von Chopins Nocturne op. 9, Nr. 2 erfüllten den Raum – ein Stück voller melancholischer Leidenschaft, das Dimitri immer dann auflegte, wenn er seine Gedanken ordnen wollte.
Ein schwaches Lächeln zog sich über Dimitris Gesicht, ein Ausdruck, der weniger Freude als Berechnung verriet. „Natürlich tut sie das.“ Seine Finger spielten mit der schweren Kristallkante des Glases, während er die Worte kostete wie den Whiskey. „Anya war nie eine Frau, die zögert. Ihre Entschlossenheit ist fast... bewundernswert.“
Viktor schwieg einen Moment und musterte Dimitris Profil mit der Präzision eines Mannes, der auf Schwächen achtete – nicht um sie auszunutzen, sondern um vorbereitet zu sein. „Und was, wenn sie Erfolg hat?“ Seine Stimme war ruhig, aber in den Worten lag ein Hauch von Besorgnis, der kaum zu überhören war.
Dimitri drehte sich langsam um, stellte das Glas auf einem kleinen Tisch ab und fixierte Viktor mit seinen grau-grünen Augen. Der Blick war scharf wie eine Klinge, voller Intelligenz und berechnender Härte. „Anya wird keinen Erfolg haben, Viktor.“
Der Hauch eines Stirnrunzelns erschien auf Viktors Gesicht, ein seltenes Zeichen von Unbehagen bei dem sonst so unerschütterlichen Mann. „Du unterschätzt sie nicht etwa aus... persönlichen Gründen, oder?“
Ein dunkles Lachen entkam Dimitri, leise und rau, fast ein Knurren. „Persönlich?“ Er trat an ein Regal aus kaltem Metall, das sich nahtlos in das minimalistische, doch luxuriöse Design des Penthouse fügte. Dort öffnete er eine verborgene Schublade und zog ein altes, abgegriffenes Foto hervor. „Nichts an Anya ist unpersönlich, Viktor. Sie ist eine Erinnerung. Eine Erinnerung daran, was ich einmal war – und was ich nie wieder sein werde.“
Das Foto zeigte zwei Menschen: eine jüngere Anya mit Augen, die damals heller geblickt hatten, und einen Mann, dessen Lächeln noch nicht vom Gewicht der Verantwortung und des Verrats geprägt war. Dimitri ließ den Daumen über die Kante des Bildes gleiten, als könnte er die Zeit abstreifen, die sich zwischen ihn und diesen Moment geschoben hatte.
Viktor trat näher, die Arme vor der Brust verschränkt. Er sagte nichts, doch seine Haltung verriet, dass er die ungesagten Worte in Dimitris Schweigen spürte. „Wenn sie dich wirklich kennt, Dimitri, dann macht sie dich verletzlicher, als du zugeben willst.“
Dimitri schloss die Schublade mit einem leisen Klicken und wandte sich zurück zum Fenster. „Ich weiß, Viktor. Und genau deshalb ist sie die Einzige, die mir wirklich gefährlich werden kann.“
Er ließ den Blick über die Stadt schweifen, die wie ein pulsierendes Netz aus Licht und Schatten unter ihm lag. „Aber Anya ist nicht hier, um zu gewinnen. Jede Bewegung, die sie macht, führt sie näher dorthin, wo ich sie haben will. Sie spielt mein Spiel – ob sie es weiß oder nicht.“
Viktor betrachtete ihn einen Moment länger, dann nickte er knapp. „Soll ich zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen im ‚Nocturne‘ veranlassen?“
Dimitri schüttelte den Kopf und griff nach einem grauen Mantel, der über einem Stuhl hing. „Nein. Sie soll keine Falle wittern. Lass sie glauben, dass sie mich überraschen kann.“
Viktor drehte sich um, seine Schritte hallten leise auf dem polierten Boden. Kurz bevor er den Raum verließ, hielt er inne und warf Dimitri einen letzten Blick zu. „Du spielst ein gefährliches Spiel, Dimitri.“
Ein schmales, kaltes Lächeln umspielte Dimitris Lippen. „Das tue ich immer.“
Die Tür schloss sich hinter Viktor, und Dimitri war allein. Die Musik verklang, als der letzte Ton des Klaviers in der Stille des Raumes verhallte. Der Regen hatte aufgehört, doch in seinem Inneren tobte ein Sturm, der nicht so leicht nachlassen würde.
Anya. Ihr Name war wie ein Flüstern in der Dunkelheit, ein Echo aus einer Zeit, die er längst hinter sich gelassen hatte. Doch jetzt war sie mehr als nur eine Erinnerung. Sie war eine Herausforderung. Ein Risiko. Und vielleicht, nur vielleicht, die einzige Rettung vor der Leere, die ihn langsam verschlang.
Er hob das Whiskeyglas, trank den letzten Tropfen und stellte es mit einem entschiedenen Geräusch ab. Dann glitt er in den Mantel, straffte die Schultern und ging zur Tür.
Die Stadt wartete, und mit ihr das „Nocturne“. Es war nicht nur der Schauplatz ihres nächsten Zusammentreffens – es war das Spielfeld, auf dem er den nächsten Zug machen würde. Und diesmal würde er dafür sorgen, dass es sein Spiel blieb.