Kapitel 3 — Das Rätsel des Datenmoduls
Emilia Brandt
Die Nacht hatte sich schwer über Berlin gesenkt, ein dichter Schleier aus kühler Dunkelheit, der sich über die Stadt legte und jede Bewegung, jedes Geräusch zu verschlucken schien. Emilia saß in ihrem privaten Arbeitszimmer, einem Ort, den nur sie betrat. Der Raum war klein und sparsam eingerichtet, nur eine schlichte Lampe, ein Schreibtisch aus Metall und ein Regal mit Büchern und technischen Handbüchern füllten ihn. Dennoch war der Raum voll von der Präsenz ihrer Persönlichkeit – funktional, präzise und ohne Ablenkungen. Der Luftfilter summte leise, während das monotone Blinken ihres Monitors den Raum in einen kühlen, bläulichen Schimmer tauchte.
Vor ihr, auf dem Schreibtisch, lag das Datenmodul – ein unscheinbarer, aber eleganter Zylinder aus gebürstetem Metall, kaum größer als ihre Handfläche. Es schien fast übernatürlich ruhig dazuliegen, als sei es ein eigenständiges Wesen, das Emilia stumm herausforderte. Ihre Gedanken kreisten unaufhörlich um das, was Lucian Falkenberg in seinem Büro gesagt hatte, das kryptische Datenmodul in ihrer Tasche, und die unausgesprochenen Fragen, die in seinen eisblauen Augen geflackert hatten.
Sie strich mit den Fingerspitzen über die glatte Oberfläche des Moduls, beinahe zögerlich, als könnte es mehr preisgeben, als sie bereit war, zu erfahren. Der Gedanke an Mara flammte plötzlich auf, unaufgefordert und dennoch willkommen. Ihre Schwester, die immer so viel lebendiger, so viel mutiger gewesen war. Was hätte Mara in dieser Situation getan? Die Erinnerung an ihr Lachen, ihre leuchtenden Augen, als sie nach einem erfolgreichen Projekt stolz ihre Ergebnisse präsentierte, stach wie ein Messer in Emilias Brust. Mara war nicht nur ihre Schwester – sie war der Anker gewesen, der sie immer wieder aus der Dunkelheit gezogen hatte.
Der Schmerz dieser Erinnerung brannte heiß, aber Emilia ließ ihn zu. Sie wusste, dass sie sich darauf konzentrieren musste – dass diese Emotionen ihr keine Schwäche, sondern eine Stärke verleihen konnten. „Ich werde dich finden“, flüsterte sie, kaum hörbar.
Mit einem leisen Klicken schob sie das Modul in den Adapter ihres Computers. Der Bildschirm flackerte kurz, und ein simpler Ladebalken erschien. Ihr Atem wurde flacher, während sie sich in ihre Arbeit vertiefte. Die Verschlüsselung war, wie sie es erwartet hatte, von einer Komplexität, die selbst die fortschrittlichsten Algorithmen der Welt übersteigen würde – für jeden, der nicht speziell darauf vorbereitet war.
„Natürlich“, murmelte sie leise, mit einer Mischung aus Sarkasmus und Bewunderung. „Falkenberg macht keine halben Sachen.“
Ihre Finger flogen über die Tastatur, während sie ihre hochspezialisierten Programme startete – Tools, die sie über Jahre hinweg entwickelt hatte und die ihr oft einen entscheidenden Vorteil verschafften. Zeile um Zeile überprüfte sie den Code, suchte nach Unregelmäßigkeiten, analysierte Muster. Dies war ihre Welt, die Welt, in der sie die Kontrolle hatte. Doch heute fühlte sich diese Kontrolle seltsam zerbrechlich an.
Die Zeit schien sich in Emilias Arbeitszimmer aufzulösen. Minuten verschwammen zu Stunden, während sie wie besessen arbeitete. Der Raum um sie herum schien zu verschwinden, nur noch das Licht des Monitors und das leise Klicken der Tastatur existierten. Plötzlich jedoch hielt sie inne. Ihre Finger verharrten über den Tasten, und ihr Atem stockte.
Da war etwas – eine winzige Abweichung im Datenfluss, ein Muster, das nur jemand wie sie erkennen konnte. Es war kaum mehr als ein Flüstern im Chaos der Algorithmen, doch es war unbestreitbar. Erinnerungen schossen ihr ins Gedächtnis, unkontrolliert und überwältigend: die Nächte, die sie und Mara gemeinsam verbracht hatten, die Diskussionen über Verschlüsselungstechniken, die Beharrlichkeit, mit der Mara an ihren Projekten gearbeitet hatte.
Dieses Muster war ihre Handschrift.
Ihre Kehle fühlte sich trocken an, und sie zwang sich, tief durchzuatmen. Ihre Hände zitterten leicht, als sie weiterarbeitete. Hoffnung stieg in ihr auf, jedoch begleitet von einer klaustrophobischen Angst. Wenn es wirklich Mara war, was bedeutete das? War sie noch am Leben? Oder war das ein makabres Echo ihrer Arbeit?
Nach weiteren, nervenzerreißenden Minuten – oder waren es Stunden? – durchbrach sie die erste Schicht der Verschlüsselung. Ihr Bildschirm wimmelte von Daten, doch eine Datei sprang sofort ins Auge: eine Videodatei mit einem Zeitstempel, der Monate nach Maras Verschwinden lag.
Emilias Puls raste. Mit zitternden Händen klickte sie die Datei an.
Das Video begann mit einem kurzen Flackern, dann wurde das Bild klar. Und da war sie. Mara. Lebendig.
Emilia schnappte nach Luft, ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. Mara trug ein einfaches Shirt, ihre Haare waren kürzer, ihr Gesicht älter, härter, als Emilia es in Erinnerung hatte. Sie stand in einem sterilen, schattenhaften Raum, der vage an ein Labor erinnerte.
„Wenn du das siehst, Emilia, hast du es geschafft.“ Maras Stimme war ruhig, aber seltsam distanziert. Es war ihre Stimme, ohne Zweifel, doch Emilia spürte, dass etwas fehlte – eine Wärme, die sonst immer da gewesen war. „Ich kann nicht viel sagen, aber du musst mir vertrauen: Folge keiner Spur, die zu offensichtlich ist. Die Wahrheit ist gefährlicher, als du dir vorstellen kannst. Und vertraue niemandem. Nicht dem BND, nicht…“ Sie zögerte, und in diesem Moment schien sie direkt durch den Bildschirm zu Emilia zu sehen. „Nicht einmal Lucian Falkenberg. Es gibt Dinge, die größer sind als wir. Du wirst sie finden, aber sei vorsichtig. Sie beobachten dich.“
Mara hob einen Zylinder, identisch mit dem, den Lucian ihr gegeben hatte. „Es ist alles hier. Aber wenn du zu tief gräbst…“
Das Video brach abrupt ab.
Emilia starrte auf den Bildschirm, unfähig, sich zu bewegen. Hoffnung, Angst, Verwirrung – all das tobte in ihr wie ein Sturm. War Mara wirklich noch am Leben? Hatte Falkenberg sie benutzt, oder hatte sie ihn infiltriert? Und wer waren „sie“?
Eine kalte Klarheit ergriff sie. Sie durfte sich nicht verlieren. Sie durfte nicht zulassen, dass diese Gefühle sie lähmten. Wenn Mara irgendwo da draußen war, dann musste sie sie finden. Und wenn dieser Weg durch die dunkelsten Schatten führte, dann würde sie ihn gehen.
Emilia lehnte sich zurück, schloss die Augen und atmete tief durch. Die Nacht war noch lange nicht vorbei, und sie hatte Arbeit zu tun.