Kapitel 3 — Schatten über dem Dorf
Clara Hoffmann
Der Morgen hatte Clara mit kühler, feuchter Luft und einem bleigrauen Himmel begrüßt. Über den Hügeln hing ein dichter Nebelschleier, der die Landschaft in eine geheimnisvolle Stille tauchte. Die feuchte Kälte schien nicht nur von außen zu kommen, sondern durchdrang auch die Mauern des Herrenhauses und setzte sich in ihr fest. Die beklemmende Kälte in den Räumen schien fast sinnbildlich für die Distanz, die Clara zu diesem Ort und seiner Vergangenheit empfand.
Nach einer hastig zubereiteten Tasse Kaffee in der abgenutzten Küche beschloss Clara, das Dorf zu erkunden. Vielleicht, so hoffte sie, ließen sich dort ein paar Antworten finden – über ihre Großmutter Margarete, das Weingut und die Rolle, die sie selbst ungewollt darin spielen sollte. Doch die Blicke, die sie bisher gespürt hatte, ließen sie vermuten, dass Offenheit hier nicht zu den vorherrschenden Tugenden gehörte.
Den Schal fest um den Hals geschlungen machte sie sich auf den Weg. Die gewundenen Straßen führten sie bergab in das Dorf, das unter dem schweren Nebel fast wie eine Filmkulisse wirkte. Fachwerkhäuser mit schiefergedeckten Dächern und holzgeschnitzten Verzierungen reihten sich aneinander. Manche Fenster waren mit Blumenkästen geschmückt, in denen die letzten Herbstblumen trotzig blühten. Doch trotz dieses Anflugs von Farbe trug das Dorf einen Hauch von Verfall – als hätte die Zeit hier beschlossen, langsam und beharrlich alles zu überziehen.
Auf dem kleinen Dorfplatz herrschte wenig Betrieb. Eine ältere Frau kehrte den Gehweg vor ihrem Haus, während ein Mann mit flachem Hut und einer hölzernen Kiste über den Platz schlenderte. Clara blieb an dem Brunnen in der Mitte des Platzes stehen. Der Brunnen war ein steinernes Relikt, versehen mit einer verwitterten Inschrift, die nur noch in Fragmenten zu entziffern war: „Die Wahrheit… tief verborgen.“ Das Wasser, das aus seinem Gussrohr in ein rundes Becken plätscherte, schien lebendiger als das Dorf selbst. Clara fragte sich, ob dieser Brunnen mehr gesehen hatte als die Menschen, die ihn heute umgaben, und ob er als stiller Beobachter ihrer Familiengeschichte eine Antwort in seinen Tiefen barg.
Die Aufmerksamkeit der wenigen Menschen war spürbar auf sie gerichtet. Es war subtil, fast unmerklich, doch Clara spürte die Blicke auf ihrem Rücken. Gespräche verstummten, während sie vorbeiging, nur um in leises Flüstern überzugehen, sobald sie außer Hörweite war. Der dünne Schleier des Nebels schloss sich hinter ihr, wie um sie von dieser Gemeinschaft weiter zu isolieren.
Schließlich entdeckte Clara ein kleines Café am Rande des Platzes. Die knarrende Holztür gab nach, und ein Windspiel über der Tür ließ ein sanftes Klingeln ertönen. Innen war es warm; der Duft von frisch gebackenem Kuchen und Kaffee mischte sich mit dem leisen Klang eines alten Radios, das eine melancholische Melodie spielte. Hinter der Theke stand eine Frau mittleren Alters mit hochgestecktem Haar und einer weißen Schürze. Ihre Hände hielten inne, als sie Clara bemerkte.
„Guten Morgen,“ sagte Clara mit einem gezwungenen Lächeln, während sie nähertrat.
„Morgen,“ erwiderte die Frau knapp und musterte Clara mit einer Mischung aus Neugier und Zurückhaltung.
„Ich bin Clara Hoffmann,“ begann sie, bemüht, sachlich und direkt zu klingen. „Meine Großmutter, Margarete Hoffmann, hat mir das Weingut hinterlassen. Ich bin erst gestern angekommen.“
Die Frau – ihr Namensschild wies sie als Frau Schneider aus – blinzelte einmal, bevor sie antwortete. „Ah, Margaretes Enkelin. Das hab ich gehört.“ Ihre Stimme war neutral, aber Clara konnte die plötzliche Spannung im Raum spüren. Zwei ältere Männer am hinteren Tisch senkten ihre Stimmen, sprachen aber weiterhin leise miteinander.
„Ich dachte, ich erkunde das Dorf ein wenig und lerne die Leute kennen,“ fuhr Clara fort, während sie sich auf einen Barhocker setzte.
Frau Schneider nickte knapp und stellte ihr, ohne zu fragen, eine dampfende Tasse Kaffee hin. „Die Leute hier reden nicht viel. Schon gar nicht über Margarete. Sie hat immer ihre Angelegenheiten selbst geregelt, verstehen Sie?“ Ihre Worte trugen den Hauch eines Vorwurfs, auch wenn sie ihre Stimme ruhig hielt.
Clara schloss ihre Hände um die Tasse, die ihre kühlen Finger wärmte. „Ich hoffe, dass ich mit der Zeit mehr darüber erfahre,“ sagte sie und bemühte sich, den beiläufigen Ton beizubehalten. Doch sie spürte, dass sie auf Widerstand stieß, wie so oft seit ihrer Ankunft.
Frau Schneider zuckte mit den Schultern und begann, Gläser zu polieren. „Vielleicht. Aber manchmal ist es besser, nicht alles zu wissen.“ Ihr Blick traf kurz den Claras, ein Ausdruck von Warnung oder vielleicht Mitleid, bevor sie sich wieder abwandte.
Clara wollte gerade nachhaken, als die Tür aufschwang und ein Mann in einem grauen Mantel eintrat. Er war groß, schlank, mit perfekt zurückgekämmtem Haar und einer Aktentasche in der Hand. Seine Haltung strahlte Selbstbewusstsein aus, das fast überheblich wirkte. Frau Schneiders Gesichtsausdruck änderte sich sofort.
„Herr von Hardenberg,“ sagte sie mit einer Mischung aus Respekt und Zurückhaltung.
Der Mann nickte ihr zu, bevor sein Blick auf Clara fiel. Einen Moment lang schien er überrascht, dann zog ein charmantes Lächeln über sein Gesicht. „Ah, Sie müssen Clara Hoffmann sein,“ sagte er und trat näher.
Clara stand auf, überrascht über seine Vertrautheit. „Ja, das bin ich,“ antwortete sie vorsichtig.
„Philipp von Hardenberg,“ stellte er sich vor und reichte ihr die Hand. Sein Griff war fest, und seine Augen schienen für einen Moment in sie hineinzublicken, als suchten sie etwas, bevor er sprach. „Ein alter Bekannter Ihrer Familie.“
„Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Clara erwiderte den Handschlag, spürte jedoch instinktiv, dass dieser Mann mehr über sie wusste, als er verriet.
„Ich habe gehört, dass Sie das Erbe Ihrer Großmutter antreten. Eine mutige Entscheidung,“ sagte er, während er sich selbstbewusst einen Stuhl nahm. „Margarete war eine bemerkenswerte Frau. Ein Vergnügen, mit ihr Geschäfte zu machen.“
„Geschäfte?“ Clara hob eine Augenbraue.
Philipp lächelte breiter, als hätte er genau diese Reaktion erwartet. „Oh, ich habe ihr vor Jahren angeboten, das Weingut zu kaufen. Es hätte ihr viele Sorgen erspart. Aber sie war… nun, sehr standhaft.“
Clara spürte, wie seine Worte sie auf die Probe stellen wollten. „Und ich nehme an, das Angebot steht noch?“ fragte sie, mit einem Hauch von Sarkasmus.
„Natürlich,“ entgegnete Philipp sofort. „Aber ich bin sicher, Sie möchten sich erst ein Bild machen. Ich verstehe, wie erdrückend solche Verantwortung sein kann.“ Seine Stimme war weich, fast freundlich, doch Clara glaubte, einen manipulativen Unterton zu hören.
„Ich werde es mir überlegen,“ sagte sie kühl und bemühte sich, die emotionale Distanz zu wahren.
Philipp lachte leise, als würde ihn ihre Abwehr amüsieren. „Nun, lassen Sie mich wissen, wenn ich helfen kann. Ich bin sicher, wir werden uns noch öfter begegnen.“ Mit einem höflichen Nicken verabschiedete er sich und verließ das Café.
Clara blieb zurück, ihre Gedanken ein chaotisches Durcheinander aus Misstrauen und Neugier. Philipp von Hardenberg hatte etwas an sich, das sie auf Abstand halten wollte, und doch spürte sie, dass er in diese ganze Geschichte tiefer verwickelt war, als er preisgab.
Als sie später zum Weingut zurückkehrte, fühlte sie sich beobachtet. Die schmalen Straßen wirkten enger, die Fenster der Häuser dunkler. Die Stille des Ortes war bedrückend. Ihre Schritte beschleunigten sich, und als das vertraute Herrenhaus vor ihr auftauchte, empfand sie eine seltsame Erleichterung.
Doch diese Erleichterung wich, als sie Jonas auf dem Kiesweg mit einem gedrungenen Mann in einer abgenutzten Lederjacke sprechen sah. Der Mann gestikulierte heftig, während Jonas mit verschränkten Armen und ernster Miene dastand. Clara verlangsamte ihre Schritte und beobachtete das Gespräch aus der Ferne. Es schien angespannt, fast konfrontativ. Als sie näherkam, verstummte das Gespräch abrupt. Der unbekannte Mann warf ihr einen misstrauischen Blick zu, bevor er sich abwandte und in Richtung Dorf davonstapfte.
„Wer war das?“ fragte Clara, als sie Jonas erreichte. Ihr Ton war schärfer, als sie beabsichtigt hatte.
„Jemand, der keine Rolle spielt,“ antwortete Jonas knapp und wandte sich ab. Doch Clara konnte die Anspannung in seiner Haltung spüren.
Während Jonas sich entfernte, blieb Clara zurück, den Blick auf den schmalen Pfad gerichtet, den der Mann genommen hatte. In diesem Dorf schien niemand zufällig zu sein, und die Schatten, die sich über das Weingut und die Gemeinschaft legten, waren dunkler und dichter, als sie je erwartet hatte.