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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Ankunft am Weingut


Clara Hoffmann

Der Zug rollte langsam in den Bahnhof des kleinen Dorfes ein, das zwischen den sanften Hügeln und steilen Weinbergen der Moselregion eingebettet lag. Clara saß angespannt auf ihrem Platz und blickte aus dem Fenster. Die Landschaft draußen wirkte wie aus einem Gemälde: leuchtende Herbstfarben, die sich über die Weinberge zogen, und ein schmaler Fluss, der sich wie ein silbernes Band durch das Tal schlängelte. Doch so malerisch der Anblick war, er ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Stattdessen verstärkte er das Gefühl, fehl am Platz zu sein. Diese Welt, so anders als ihr geordnetes, urbanes Leben, fühlte sich fremd und seltsam unzugänglich an. Der Gedanke, hier länger als nötig zu bleiben, war ihr immer noch unerträglich, auch wenn sie sich dazu gezwungen hatte, das Erbe ihrer Großmutter anzutreten – vorerst.

Als der Zug hielt, schnappte Clara sich ihre schlichte Reisetasche – leicht, fast zu leicht, da sie nur das Nötigste mitgenommen hatte. Es war ein stilles Statement: Sie hatte nicht vor, hier Wurzeln zu schlagen. Die kühle Herbstluft schlug ihr entgegen, als sie den Bahnsteig betrat. Der Duft von feuchter Erde und Holz mischte sich mit dem entfernten Klang von Kirchenglocken. Um sie herum wirkte das Dorf, als wäre es in einer vergangenen Zeit stehengeblieben. Ältere Männer in schlichten Mänteln unterhielten sich leise, während Frauen mit Einkaufstaschen aus Stoff bedächtig an den Fachwerkhäusern vorbeischritten. Clara spürte ihre Blicke, die sie mit einer Mischung aus verblüffter Neugier und unterschwelligem Misstrauen musterten.

Sie straffte die Schultern und zog ihren Mantel enger, während sie zum kleinen Platz ging, wo ein Taxi wartete. Der Fahrer, ein stämmiger Mann mit wettergegerbtem Gesicht und einem abgenutzten Hut, sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Zum Weingut Hoffmann, bitte,“ sagte Clara und bemerkte die leichte Spannung, die sich über seine Züge legte.

„Sicher,“ erwiderte er knapp und deutete ihr, einzusteigen. Während der Wagen sich in Bewegung setzte, sah Clara aus dem Fenster. Die Straßen waren schmal und von Kopfsteinpflaster durchzogen. Links und rechts reihten sich Weinhänge aneinander, durchbrochen von alten Steinmauern und Obstbäumen, deren Blätter in warmen Rottönen schimmerten. Der Fluss schimmerte in der Ferne, und ein kühler Wind wehte durch die Landschaft. Der Fahrer war schweigsam, aber sie bemerkte, wie er sie durch den Rückspiegel immer wieder verstohlen musterte. „Sie kommen aus der Stadt?“ fragte er schließlich, als der Wagen einen kleinen Hügel hinaufkurvte.

„Ja, aus Hamburg,“ antwortete Clara knapp. Sie wollte keine weiteren Fragen provozieren, doch zu ihrer Überraschung nickte der Mann nur und sagte nichts mehr. Die Distanz zwischen ihr und der Dorfgemeinschaft, die sie bereits auf dem Bahnsteig gespürt hatte, wurde durch die Stille im Wagen nur noch deutlicher.

Als das Weingut in Sicht kam, hielt Clara den Atem an. Das imposante Herrenhaus erhob sich vor den Hügeln wie ein Wächter. Die efeubewachsenen Mauern wirkten, als hätten sie die Zeit verschluckt, und das graue Schieferdach glitzerte im Licht der tief stehenden Sonne. In der klaren Herbstluft schien das Anwesen beinahe zu atmen – eine melancholische Würde, die Clara gleichermaßen faszinierte und unruhig machte.

Der Wagen hielt auf dem Kiesweg vor dem Eingang. Clara stieg aus und spürte, wie der Wind den Duft von Erde, welkem Laub und den letzten Trauben der Saison zu ihr trug. Sie zögerte einen Moment, bevor sie dem Fahrer das Geld reichte. „Danke,“ sagte sie knapp. Der Mann nickte nur und fuhr davon, ließ sie allein vor dem riesigen Anwesen zurück.

Clara stand da, allein mit dem Herrenhaus und der Welt, die sie nie gewählt hätte. Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, obwohl weit und breit niemand zu sehen war. Gerade wollte sie zur schweren Holztür gehen, als diese sich öffnete. Ein Mann trat heraus – groß, schlank, mit kurzen dunkelblonden Haaren, die von der Sonne leicht aufhellten. Seine Arbeitskleidung – ein grobes Hemd und robuste Hosen – war staubig, und seine Hände waren von Erde bedeckt, die er nicht einmal zu verbergen versuchte.

„Clara Hoffmann?“ fragte er, wobei sein Ton ruhig, aber auch prüfend klang. Sein Blick war durchdringend, als wolle er mehr in ihr lesen, als sie zu zeigen bereit war.

„Ja,“ antwortete Clara, sachlich und distanziert. „Und Sie sind?“

„Jonas Bergmann,“ sagte er, ohne sie aus den Augen zu lassen. „Ich bin der Verwalter. Margarete hat mich gebeten, mich um das Weingut zu kümmern.“ Er sprach mit Bedacht, sein Ton war höflich, aber ohne Wärme. Clara spürte die Distanz in seinen Worten und fragte sich, ob er sie bereits verurteilt hatte, ohne sie wirklich zu kennen.

„Gut,“ sagte sie schließlich. „Ich nehme an, Sie werden mir helfen, mich hier zurechtzufinden.“ Die Worte kamen kühler heraus, als sie beabsichtigt hatte, doch Jonas ließ sich nichts anmerken. Statt einer Antwort trat er zur Seite und deutete zum Eingang.

„Ich zeige Ihnen das Haus,“ sagte er schlicht.

Clara folgte ihm ins Innere des Herrenhauses. Der Duft von altem Holz und einer kaum wahrnehmbaren Feuchtigkeit schlug ihr entgegen, während ihre Schritte auf den knarrenden Dielen widerhallten. Der Eingangsbereich war beeindruckend: hohe Decken, ein alter Kronleuchter, der leicht schief hing, und ein massiver Treppenaufgang, der in die oberen Stockwerke führte. Doch trotz seiner Eleganz hatte das Haus etwas Verlassenes. Staub lag auf den Oberflächen, und die Tapeten waren an einigen Stellen verblasst. Die Zeit war hier stehen geblieben, genau wie im Dorf.

„Wie lange arbeiten Sie schon hier?“ fragte Clara, während sie Jonas’ ruhige Schritte beobachtete, die sie durch die Flure führten.

„Seit ich denken kann,“ erwiderte er knapp. Er blieb vor einer Tür stehen und öffnete sie. „Das ist das Arbeitszimmer. Margarete hat hier die meiste Zeit verbracht. Vielleicht finden Sie hier etwas, das Ihnen hilft, sich ein Bild zu machen.“

Clara trat ein und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Die massiven Regale, die bis zur Decke reichten, waren gefüllt mit Büchern und Ordnern. Auf dem schweren Schreibtisch lag eine alte Schreibmaschine, die aussah, als hätte sie seit Jahrzehnten niemand mehr benutzt. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass ihre distanzierte Großmutter hier gesessen hatte und doch so viel von ihrem Leben verborgen gehalten hatte.

„Haben Sie hier auch gelebt?“ fragte Clara, ohne sich umzudrehen.

„Nein,“ antwortete Jonas mit einem Hauch von Schärfe. „Ich lebte im Dorf. Aber das Weingut war immer ein Teil meines Lebens.“ Seine Stimme klang ruhiger, als ob er die Schärfe bedauerte, doch er sagte nichts weiter. Clara nahm sich vor, die Gespräche mit ihm später zu vertiefen.

Die Führung ging weiter, doch es war klar, dass Jonas bestimmte Bereiche absichtlich ausließ. Als sie an einer Tür im Obergeschoss vorbeikamen, bemerkte Clara, wie er einen Moment zögerte, bevor er weiterging. Sie sagte nichts, doch sie machte sich eine mentale Notiz. Etwas in diesem Haus hielt mehr Geheimnisse bereit, als Jonas bereit war, zu teilen.

Zurück im Eingangsbereich wandte sich Jonas zu ihr. „Ich werde draußen bei den Weinbergen sein, wenn Sie etwas brauchen,“ sagte er mit einer höflichen, aber kühlen Distanz, die deutlich machte, dass er sie nicht länger als nötig begleiten wollte.

„Danke. Ich komme klar,“ erwiderte Clara knapp. Jonas nickte nur und verschwand durch die Tür.

Clara blieb allein zurück, umgeben von der Stille des Hauses. Sie ließ sich in den altmodischen Sessel im Eingangsbereich sinken und ließ ihren Blick erneut durch den Raum gleiten. Das war es also, dachte sie. Das Vermächtnis, das sie nie wollte. Der Ort, den sie niemals als Heimat gesehen hatte. Draußen wehte der Wind durch die Weinberge, und das Rascheln der Äste hallte durch die Luft.

Clara stand auf und ging zu einem Fenster. Von hier aus konnte sie die Weinberge überblicken, die sich wie Wellen in der Landschaft ausbreiteten. Die Herbstsonne tauchte die Reben in ein goldenes Licht, und für einen kurzen Moment verspürte sie etwas, das sie nicht benennen konnte – eine Verbindung, oder vielleicht eine Herausforderung. Doch die Realität kehrte schnell zurück. Dieses Weingut war nicht nur ein idyllischer Ort, sondern ein Knoten aus Geheimnissen, die darauf warteten, gelöst zu werden. Und Clara wusste, dass sie bald Antworten suchen würde.