Kapitel 3 — Die Flucht über die Wellen
Callum MacLaren
Der Wind pfiff durch die hölzernen Planken des Schiffs, das rhythmische Knarren der Masten vermischte sich mit dem dumpfen Rauschen der Wellen. Unter Deck herrschte drückende Enge, die stickige Luft war schwer von Schweiß und Verzweiflung. Callum presste die Zähne aufeinander. Die salzigen Spritzer des Meeres waren nur zu erahnen, doch für ihn fühlten sie sich wie ein ferner Gruß der Freiheit an – einer Freiheit, die ihm immer weiter entglitt.
Er saß mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, die Ketten an seinen Handgelenken klirrten leise bei jeder Bewegung. Neben ihm starrte ein älterer Mann mit eingefallenen Wangen ins Leere. „Wenn wir Preußen erreichen, sind wir verloren“, flüsterte der Mann auf Gälisch, seine Stimme rau und brüchig von der salzigen Luft.
„Dann dürfen wir Preußen nicht erreichen“, erwiderte Callum leise, seine Stimme voller ungebrochener Entschlossenheit.
Der Mann schnaubte trocken, ein Laut ohne Freude. „Sieh dich um, Junge. Sie haben die See, die Waffen, die Macht. Und was haben wir? Ketten und die Erinnerungen an ein Leben, das längst verloren ist.“
Callum schwieg. In ihm tobte ein Sturm – nicht der der See, sondern einer aus Schuld, Wut und Hoffnung. Seine Finger schlossen sich instinktiv um das Amulett seines Bruders, das sich kühl anfühlte gegen die raue Haut seiner Hand. Er dachte an Seumas, an die Highlands, an die Freiheit, die er einst gekannt hatte. Vielleicht war es Wahnsinn, aber er würde nicht aufgeben – nicht für ihn, nicht für das Vermächtnis seines Clans.
Das Schiff schwankte heftig, als eine besonders starke Welle gegen den Rumpf schlug. Einige der Männer, die dicht neben ihm kauernden Gefangenen, wimmerten leise. Andere klammerten sich an die grob geschnitzten Balken, ihre Augen von einem stumpfen Glanz erfüllt, der nichts als Resignation ausdrückte. Callum widerstand dem Drang, sich ebenfalls festzuhalten. Stattdessen schloss er für einen Moment die Augen und stellte sich die Highlands vor: die windgepeitschten Hügel, die klaren Flüsse, die ungezähmte Weite seiner Heimat.
Doch das Bild zerbrach, als eine raue Stimme von oben durch das Deck hallte. „Alle hinaus!“, brüllte ein Offizier, die Worte durch die Bretter gedämpft. Callum öffnete die Augen und spürte, wie die Unruhe in der stickigen Dunkelheit schärfer wurde. Die Männer um ihn herum begannen sich zu bewegen, langsam, gequält, als hätten ihre Glieder das Gehen verlernt.
Als Callum schließlich auf die Planken des Oberdecks stieg, traf ihn der frische Wind wie ein Schlag ins Gesicht. Er blinzelte gegen die Dunkelheit des frühen Abends. Die salzige Luft fühlte sich wie ein Hauch von Leben an, doch der Himmel war schwer von sturmverhangenen Wolken, und die See peitschte sich selbst in einem erbarmungslosen Tanz.
Die Wachen trieben sie in einer Reihe zusammen, ihre Musketen lässig geschultert, doch ihre Augen verrieten Wachsamkeit. Callum hob den Kopf und ließ seinen Blick schweifen. Das Deck war ein Durcheinander aus Seilen, Fässern und Matrosen, die in hektischer Eile den Sturm zu bändigen versuchten. In der Ferne, kaum sichtbar, lag ein dunkler Schatten am Horizont – Preußen, nahm Callum an. Ein Land, das ihn nichts als neue Ketten erwarten ließ.
„Beweg dich!“, rief einer der Wachen und stieß Callum mit einem Gewehrkolben in den Rücken. Callum taumelte vorwärts, fing sich jedoch schnell wieder. Er drehte den Kopf und fixierte den Soldaten mit einem kalten Blick. Die Wache hielt kurz inne, bevor sie sich abwandte, offensichtlich unbeeindruckt, doch Callum spürte einen Funken Genugtuung.
Er wurde in eine Ecke des Decks gedrängt, wo er zusammen mit den anderen Gefangenen eng aneinandergedrängt sitzen musste. Die Ketten an seinen Handgelenken klirrten leise, als er sich niederließ. Um ihn herum herrschte bedrückendes Schweigen, nur das Heulen des Windes und das Klatschen der Wellen durchbrachen die Stille.
Ein junger Mann mit dünnem Haar und schreckgeweiteten Augen flüsterte plötzlich: „Sie beobachten uns ständig. Es gibt kein Entkommen.“
„Jede Kette hat ein schwaches Glied“, murmelte Callum und ließ seinen Blick erneut über das Deck gleiten. Die Matrosen waren abgelenkt, die Wachen müde. Der Sturm nahm zu, und die Unruhe unter den Männern wuchs. Callum spürte, wie sich eine Idee in seinem Kopf formte, ein waghalsiger Plan, der so verzweifelt war wie ihre Lage.
Die Stunden vergingen quälend langsam, während das Schiff weiter durch die aufgewühlte See pflügte. Die Nacht brach herein, und die Dunkelheit verschluckte die Welt um sie herum. Callum wartete. Er wusste, dass der Moment kommen würde, wenn die Wachen nachlässig wurden, wenn der Sturm ihre Aufmerksamkeit forderte.
Der richtige Augenblick kam, als das Schiff plötzlich unter einer gewaltigen Welle erzitterte. Männer schrien, und die Matrosen hasteten über das Deck, um die Segel zu sichern. Eine Wache stolperte und ließ dabei kurz ihre Musketen aus den Augen. Callum nutzte die Gelegenheit. Mit einem schnellen Ruck zog er an den Ketten, die seine Handgelenke fesselten, und brachte sie nach vorne. Seine Bewegungen waren präzise, ein Überbleibsel seiner Ausbildung zum Kämpfer.
Ein anderer Gefangener, ein junger Mann mit schreckgeweiteten Augen, bemerkte seine Absicht. „Was tust du?“, flüsterte er.
„Fliehen“, antwortete Callum knapp und richtete seinen Blick auf das kleine Rettungsboot, das an der Seite des Schiffs befestigt war. Wenn er es schaffen könnte, sich dorthin zu schleichen, während das Chaos weiterging...
Doch nicht jeder teilte seinen Wunsch nach Freiheit. Ein alter Mann, kaum mehr als Haut und Knochen, schüttelte heftig den Kopf. „Du wirst uns alle töten“, zischte er.
Callum ignorierte die Warnung. Er wusste, dass dies seine einzige Chance war. Mit einem schnellen, fließenden Bewegungsablauf duckte er sich unter einem Tau hindurch und begann sich in Richtung des kleinen Boots zu bewegen. Seine Schritte waren leise trotz der Ketten, doch jede Bewegung fühlte sich an wie ein Wettlauf gegen die Zeit.
Doch dann, als er fast das Boot erreicht hatte, hörte er hinter sich ein keuchendes Geräusch. Ein anderer Gefangener – einer, den Callum nicht einmal bemerkt hatte – sprach hektisch mit einer Wache, zeigte auf ihn und deutete panisch in seine Richtung. Verrat.
Callum reagierte instinktiv. Er wandte sich um und rannte die letzten Schritte zum Boot, doch es war zu spät. Hände packten ihn, grobe, starke Hände, die ihn zurückzogen, bevor er sein Ziel erreichen konnte. Callum wehrte sich, schlug um sich, doch die Wachen waren zu viele.
„Du Dreckskerl!“, knurrte einer der Soldaten, während er Callums Arm verdrehte und ihn zu Boden zwang. Callum biss die Zähne zusammen, ließ jedoch keinen Laut von Schmerz hören.
Der Offizier, der zuvor über sie gewacht hatte, trat näher. Sein Gesicht war eine Maske aus Wut und Verachtung. „Du glaubst wohl, du könntest entkommen, Schotte?“, spottete er.
Callum spuckte auf den Boden und starrte ihn an, sein Blick voller ungebrochener Entschlossenheit.
Der Offizier verzog das Gesicht, bevor er knapp befahl: „Auspeitschen. Zehn Hiebe. Lasst ihn lernen, wem er gehört.“
Callum wurde hochgezerrt und zu einem der Masten geschleppt. Die anderen Gefangenen schauten schweigend zu, ihre Gesichter eine Mischung aus Furcht und Bedauern. Die erste Peitsche traf mit einem schneidenden Krachen seine Schultern, und ein brennender Schmerz durchzog seinen Körper.
Doch Callum schrie nicht. Selbst als die zweite, dritte und vierte Peitsche auf seinem Rücken niedersauste, hielt er den Kopf hoch. Er dachte an Seumas, an die Freiheit, die er für seinen Bruder wollte. Und er schwor sich, dass dies nicht das Ende war.
Als sie fertig waren, ließ man ihn wie einen Sack auf die Planken fallen. Callum spürte das warme Blut, das seine Haut hinunterrann, doch er biss die Zähne zusammen. Zwei Wachen packten ihn und schleppten ihn zurück unter Deck.
Dort, in der Dunkelheit, kauerte Callum in einer Ecke, sein Körper schmerzte bei jeder Bewegung. Doch in seinem Inneren brannte ein Feuer. Sie hatten ihn nicht gebrochen. Und sie würden es auch nicht schaffen.
Er schloss die Augen und lauschte dem Flüstern der Wellen, das ihm leise Hoffnung zusprach. Seine Zeit würde kommen. Er musste nur geduldig sein.