Kapitel 3 — Das Haus der Geheimnisse
Lea Winter
Eine kühle Brise zog durch den undichten Fensterrahmen und ließ Leas Nackenhaare sich aufstellen. Die Dielen unter ihren Stiefeln knarrten leise bei jedem Schritt, während sie durch die Eingangshalle des Hauses ihrer Großmutter ging. Das Echo ihrer Schritte schien die Stille zu durchbrechen, wie ein akustisches Mahnmal für die Einsamkeit dieses Ortes. Ihr Blick wanderte über die verstaubten Möbel, die alten Gemälde an den Wänden und die Stapel von Büchern, die wie stille Wächter auf Regalbrettern ruhten. Der Duft von altem Papier, verwittertem Holz und einem Hauch von Feuchtigkeit, der aus den Ecken zu kommen schien, lag schwer in der Luft.
Lea zog die Ärmel ihrer Lederjacke nach oben, um ihre Hände frei zu haben, und versuchte, ihren Fokus zu finden. Die Unordnung des Hauses war nicht überwältigend, doch die Art, wie die Gegenstände angeordnet waren, beunruhigte sie. Es war, als hätte ihre Großmutter Marta alles absichtlich so hinterlassen – nicht zufällig, sondern mit einer Absicht, die Lea nicht begreifen konnte. Eine leichte Beklemmung stieg in ihr auf, und sie schüttelte den Kopf, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden.
Ihr erster Halt war das Wohnzimmer, das direkt an die Eingangshalle grenzte. Die schweren, dunkelgrünen Vorhänge an den Fenstern ließen kaum Licht hinein, und das spärliche Sonnenlicht, das durch die dichten Baumkronen draußen drang, warf ein flackerndes Muster von Schatten und Licht auf den Boden. Der große Kamin an der gegenüberliegenden Wand war unerwartet sauber, fast zu sauber, als ob er monatelang nicht benutzt worden wäre, obwohl der Rest des Raumes deutlich vernachlässigt wirkte.
Auf einem Beistelltisch neben einem abgenutzten Sessel entdeckte Lea ein Notizbuch. Ihr Herz klopfte schneller, als sie es aufschlug. Die ersten Seiten waren mit enger, schwungvoller Handschrift gefüllt, die sie sofort als die ihrer Großmutter erkannte. Der Inhalt jedoch war enttäuschend: Es handelte sich um eine Liste von Haushaltsaufgaben – „Holz für den Kamin besorgen“, „Vorhänge reparieren“, „Nachsehen, ob der Keller feucht ist“. Lea blätterte weiter, in der Hoffnung auf etwas Substanzielleres, doch das Notizbuch endete nach wenigen Seiten mit leeren Blättern. Frustriert ließ sie es auf den Tisch zurücksinken.
Ihr Blick wanderte weiter, bis er an einer Wand hängen blieb, an der eine Galerie von Familienfotos arrangiert war. Sie trat näher heran und ließ die Finger sacht an den Rahmen entlanggleiten. Ihre Großmutter erschien in verschiedenen Lebensphasen: Marta als junge Frau, Marta mit Leas Mutter und Onkel, Marta allein vor diesem Haus, als es noch lebendig und gepflegt gewirkt hatte. Ein Stich der Trauer durchzog Lea bei dem Anblick. Ihre Großmutter war immer eine harte, verschlossene Frau gewesen, doch sie hatte eine Wärme ausgestrahlt, die Lea in schwierigen Momenten Trost gespendet hatte. Nun wirkte sie auf diesen Fotos wie ein Geist aus einer längst vergangenen Zeit.
Ein Bild fiel jedoch aus dem Rahmen der Nostalgie. Es war in der Mitte der Galerie platziert, die Farben verblasst, die Umrisse fast verschwommen. Darauf stand Marta vor einem kreisförmigen Steinkreis, umgeben von hohen, knorrigen Eichen. In ihren Händen hielt sie ein Amulett, das selbst auf dem Foto wie zu glühen schien. Das kunstvoll gearbeitete Silber schlang sich um einen tiefblauen Edelstein in der Mitte. Lea kniff die Augen zusammen, betrachtete das Amulett eingehender und spürte eine seltsame Wärme, die durch ihre Finger wanderte, als sie den Rahmen berührte.
„Was hat es mit dir auf sich?“ murmelte sie leise. Sie nahm das Foto von der Wand und drehte es um, doch die Rückseite bot keine Hinweise. Ein leichter Schauer erfasste sie, und es fühlte sich an, als ob Marta ihr etwas sagen wollte – oder dass etwas gesagt werden musste, das sie noch nicht verstand.
Ihre Erkundung führte sie weiter in die Küche, die im Gegensatz zum Rest des Hauses fast unheimlich ordentlich wirkte. Die sauberen, wenn auch alten Töpfe und das ordentlich gestapelte Geschirr gaben dem Raum eine sterile Perfektion. Doch auf der massiven Holzarbeitsplatte lag ein kleines, in Leder gebundenes Buch, das von einem Band zusammengehalten wurde. Lea zögerte, bevor sie es öffnete, als ob sie befürchtete, die Intimität dieses Hauses zu stören.
Das Buch war keine Sammlung von Rezepten, sondern eine seltsame Mischung aus Symbolen, Notizen und Skizzen. Auf einer Seite war eine grobe Zeichnung des Hauses abgebildet, jedoch mit zusätzlichen Details: Geheimgänge, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, und Markierungen, die auf bestimmte Räume hinwiesen. Auf einer anderen Seite waren Symbole abgebildet – ein Kreis mit einer stilisierten Mondsichel, die sie unwillkürlich an das Amulett auf dem Foto erinnerte. Ihr Puls beschleunigte sich, als sie mit den Fingerspitzen über die Linien der Symbole fuhr. Es war, als würden sie eine fremdartige Energie ausstrahlen, die gleichzeitig faszinierend und beängstigend war.
Plötzlich fiel ein Lichtstrahl durch das Fenster und lenkte Leas Aufmerksamkeit auf eine Ecke des Raumes, die bisher im Schatten gelegen hatte. Dort glitzerte etwas. Es war eine kleine Truhe, alt und mit einem komplizierten Schloss versehen. Lea kniete sich hin und untersuchte sie genauer. Ihre Finger glitten über das Schloss, das das gleiche Symbol trug wie das Buch – der Kreis mit der Mondsichel.
„Das kann kein Zufall sein“, flüsterte sie. Sie versuchte, an der Truhe zu rütteln, doch sie war schwer und schien fest verankert. Ein Gefühl des Unbehagens kroch in ihr hoch, als sie das Buch danebenlegte und die Symbole erneut betrachtete. Noch bevor sie einen Plan fassen konnte, erklang ein dumpfes Klopfen.
Es war kein Klopfen an der Tür, sondern eher ein rhythmisches, hohles Geräusch, das aus dem Boden zu kommen schien. Lea sprang erschrocken auf und stolperte zurück, während der kalte Schweiß auf ihrer Stirn ausbrach.
„Beruhig dich“, befahl sie sich selbst und zwang ihre Atmung, langsamer zu werden. Sie lauschte angestrengt, doch das Klopfen hörte auf, und die drückende Stille kehrte zurück. Dennoch konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass sie beobachtet wurde.
Unruhig entschied sie, die Truhe später zu untersuchen, und wandte sich dem nächsten Raum zu: dem Arbeitszimmer ihrer Großmutter. Dieser Raum war für sie immer ein Mysterium gewesen, ein Ort, den sie als Kind nur selten betreten durfte. Er war kleiner, als Lea ihn in Erinnerung hatte, doch jeder Gegenstand darin schien voller Bedeutung. Der massive Schreibtisch aus dunklem Holz war überladen mit Papieren und Büchern, die Regale an den Wänden quollen vor alten Bänden über. Ein leichter Duft von getrockneten Kräutern hing in der Luft.
Auf dem Schreibtisch lag ein Brief, der an sie adressiert war. Leas Finger zitterten, als sie den Umschlag öffnete und das Papier entfaltete.
„Meine liebste Lea,“ begann der Brief. „Wenn du dies liest, bist du bereit, die Wahrheit zu erfahren – oder zumindest hoffe ich es. Dieses Haus birgt viele Geheimnisse, und es ist meine größte Hoffnung, dass du die Stärke findest, die Wahrheit zu akzeptieren. Die Antworten, die du suchst, liegen nicht nur in den Büchern oder in der Vergangenheit, sondern auch in dir selbst. Vertraue deinem Instinkt, so wie ich es immer getan habe. Und vergiss nicht: Manchmal ist das, was uns am meisten Angst macht, auch das, was uns am meisten offenbart.“
Lea spürte, wie sich ein Knoten in ihrer Brust löste, während sie die Worte ihrer Großmutter las. Doch die letzte Zeile ließ ihr Herz erneut schneller schlagen: „Das Amulett wird dir Antworten geben – doch nur, wenn du bereit bist.“
Das Amulett. Ihre Gedanken flogen zurück zum Foto im Wohnzimmer und dem mysteriösen Schmuckstück, das Marta in den Händen gehalten hatte. Sie hatte es noch nicht gefunden, aber irgendwo in diesem Haus musste es sein. Lea beschloss, ihre Suche fortzusetzen, auch wenn die Schatten und Geheimnisse des Hauses ihr immer unheimlicher wurden.
Als sie das Arbeitszimmer verließ, hörte sie erneut das leise Klopfen – diesmal war es lauter und schien aus dem Keller zu kommen. Lea blieb stehen, ihr Atem ging flach. Die Anspannung in ihrem Inneren wuchs, als sie flüsternd fragte: „Was hast du mir hinterlassen, Marta?“