Kapitel 3 — Aufbruch ins Ungewisse
Noah Bennett
Die Morgendämmerung legte einen kühlen, dunstigen Schleier über die Stadt, während Noah hektisch seine wenigen Habseligkeiten zusammensuchte. Das Buch mit der leuchtenden Rune lag sicher in seiner Tasche, die er fest umklammert hielt, als wäre es das einzige, was ihn noch mit der Welt verband. Sein Apartment, in dem er so viele einsame Nächte verbracht hatte, schien karger und fremder denn je. Die vertrauten Wände, die ihn einst beschützt hatten, wirkten nun wie ein Gefängnis.
„Eldarhavn“, murmelte er leise, das Wort schwer auf seiner Zunge, wie ein Versprechen, das er kaum zu begreifen wagte.
Noah war kein Abenteurer. Sein Leben hatte sich stets in geordneten Bahnen bewegt, zwischen den Regalen der Bibliothek und den stillen Nächten in diesem Apartment. Bücher hatten ihm alles gegeben – Sicherheit, Ordnung, eine Welt, die er verstehen konnte. Doch das Buch mit der Rune war anders. Es hatte etwas in ihm geweckt, das er nicht benennen konnte. Eine innere Stimme drängte ihn, weiterzugehen, hinaus in die kalte, unbekannte Welt, als ob hinter den Bergen eine Antwort auf Fragen wartete, die er sich nie zu stellen gewagt hatte.
Er hielt inne und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Die Stille war erdrückend. Alles schien plötzlich so bedeutungslos. Die Bücher, die Kaffeetasse auf dem Schreibtisch, selbst der alte Sessel, in dem er unzählige Stunden verbracht hatte – nichts davon hielt ihn hier. Mit einem letzten, fast gleichgültigen Blick drehte er sich um und verließ die Wohnung.
Die Straßen waren menschenleer, und die Stille des Morgens wurde nur durch das ferne Rauschen der Stadt durchbrochen. Noah zog die Schultern hoch, um sich vor dem kalten Wind zu schützen, der durch die Gassen pfiff. Seine Schritte waren schnell, fast getrieben, als ob er befürchtete, dass er in letzter Sekunde doch noch umkehren würde. Doch diese Angst war nichts gegen den inneren Drang, der ihn vorwärts trieb.
Am Bahnhof angekommen, suchte er sich einen Platz am Fenster, weit weg von den wenigen anderen Passagieren. Der Zug fuhr an, und die Landschaft zog in einem verschwommenen Grau an ihm vorbei – kahle Felder, nebelverhangene Wälder, die langsam den ersten Anzeichen des Winters erlagen. Das monotone Rattern der Räder wirkte beruhigend und doch bedrückend. Noahs Gedanken wanderten immer wieder zu der Tasche an seinen Füßen, wo das Buch sicher verstaut war. Die Erinnerung an den Traum – an die leuchtenden Runen, die silbernen Augen, die halb menschliche, halb wolfähnliche Gestalt – brannte in ihm. Es war, als hätte dieser Traum einen Teil von ihm verändert, etwas, das er nicht mehr abschütteln konnte.
„Eldarhavn“, flüsterte er erneut, die Stimme so leise, dass sie kaum hörbar war. Der Name hallte in seinem Kopf wider, ein Echo, das ihn nicht losließ.
Nach Stunden hielt der Zug an einer kleinen, verlassen wirkenden Station. Die kalte Luft biss in sein Gesicht, als er ausstieg. Vor ihm lag eine Schotterstraße, die sich zwischen kahlen Bäumen in die Berge hinaufschlängelte. Die Karte im Buch hatte ihn hierher geführt. Die Linien darauf hatten etwas Lebendiges, fast Pulsierendes, das ihn in den Bann zog. Es war, als hätte die Karte eine eigene Stimme, die ihn rief.
Die ersten Stunden seiner Wanderung waren still, fast friedlich. Der Wind rauschte durch die kahlen Äste, und das gleichmäßige Knirschen seiner Schritte auf dem Kies war das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach. Doch je weiter er ging, desto stärker wuchs das Gefühl, beobachtet zu werden. Eine Präsenz, die er nicht greifen konnte. Es war ein unruhiges Kribbeln in seinem Nacken, das ihn immer wieder dazu brachte, sich umzusehen.
Dann, plötzlich, raschelte es im Unterholz. Noah blieb abrupt stehen. Sein Atem beschleunigte sich, und er starrte in die Schatten zwischen den Bäumen. Nichts bewegte sich. Doch das Gefühl, dass etwas dort war, ließ ihn nicht los. Unbewusst griff er nach der Tasche, als könnte das Buch ihn beschützen.
„Das ist lächerlich“, murmelte er sich selbst zu, doch seine Stimme klang brüchig, als ob er sich selbst nicht überzeugte.
Er zwang sich, weiterzugehen, doch die Anspannung ließ nicht nach. Die Bäume schienen dichter zu werden, die Schatten tiefer. Selbst der Wind hatte aufgehört, und eine unnatürliche Stille lag über dem Pfad. Es war, als hätte die Welt den Atem angehalten.
Ein leises Knurren ließ ihn erstarren. Er drehte sich langsam um und sah sie. Zwei Augenpaare, leuchtend wie flüssiges Silber, starrten ihn aus den Schatten heraus an. Wölfe. Ihre schlanken, muskulösen Körper bewegten sich lautlos durch das Unterholz, ihre Bewegungen geschmeidig, fast unnatürlich. Noahs Herz hämmerte in seiner Brust, doch er konnte sich nicht rühren.
Die Wölfe schienen ihn zu mustern, als ob sie etwas in ihm suchten. Ihre Augen schienen durch ihn hindurchzusehen, bis tief in sein Innerstes.
„Ich... ich werde euch nichts tun“, flüsterte er, die Worte mehr ein verzweifelter Versuch, die Stille zu durchbrechen, als eine echte Beschwichtigung.
Doch die Wölfe griffen nicht an. Stattdessen hielten sie inne, ihre Augen unverwandt auf ihn gerichtet. Für einen Moment schien es, als ob eine unsichtbare Verbindung zwischen ihnen bestand – ein flüchtiger Hauch von Verstehen, von Zugehörigkeit. Dann, so plötzlich wie sie aufgetaucht waren, verschwanden sie wieder in den Schatten.
Noah blieb noch eine Weile wie angewurzelt stehen, unfähig, das Gesehene zu begreifen. Schließlich zwang er sich, weiterzugehen, doch die Begegnung hatte ihn erschüttert.
Als die Sonne hinter den Bergen verschwand, erreichte er eine kleine Herberge. Der Ort war alt und wirkte wie aus der Zeit gefallen. Die Gebäude aus verwittertem Holz schienen kaum noch standzuhalten. Ein schwacher Lichtschein drang aus den Fenstern der Herberge.
Noah stieß die Tür auf, und die Wärme eines Feuers schlug ihm entgegen. Der Wirt, ein hagerer Mann mit tiefen Falten im Gesicht und einer unheilvollen Ruhe in den Augen, blickte ihn mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen an.
„Ein Zimmer?“, fragte der Mann, seine Stimme rau und leise.
Noah nickte. „Ja, bitte.“
Nachdem er bezahlt hatte, führte der Wirt ihn in einen kleinen Raum im Obergeschoss. Bevor er ging, hielt er inne und musterte Noah eindringlich.
„Du bist nicht von hier, oder?“, fragte er.
„Nein“, antwortete Noah zögernd.
Der Wirt nickte langsam, seine Augen voller unausgesprochener Worte. „Pass auf dich auf, Junge. Die Berge haben ihre eigenen Regeln.“
Noah wollte nachfragen, doch der Mann verschwand, bevor er etwas sagen konnte. Allein in dem spärlich eingerichteten Raum ließ er sich auf das Bett sinken. Die Ereignisse des Tages hatten ihn ausgelaugt, doch Ruhe war ihm nicht vergönnt. Das Buch zog ihn weiterhin in seinen Bann, und der Name „Eldarhavn“ hallte wie ein Echo in seinem Kopf wider.
In der Nacht träumte er erneut. Diesmal stand er auf einer schmalen Bergstraße unter einem Himmel voller Sterne. Vor ihm tauchte die Gestalt aus seinem ersten Traum wieder auf – halb Mensch, halb Wolf, mit glühenden Augen und einer Präsenz, die ihn gleichermaßen erschreckte und faszinierte. Sie sprach nicht, doch ihre Augen schienen Worte zu formen, die er nicht hören, aber fühlen konnte. Es war ein Ruf, ein Befehl – und Noah wusste, dass er ihm folgen musste.
Als er erwachte, war es noch dunkel. Der Wind heulte um die Herberge, und der Mond schien durch das kleine Fenster. Noah saß eine Weile regungslos da, die Worte des Traums immer noch in seinem Geist. Dann griff er nach seiner Tasche, zog das Buch hervor und öffnete es. Die Karte lag vor ihm, die Linien schienen in dem kalten Mondlicht zu pulsieren.
„Eldarhavn“, sagte er erneut, diesmal mit mehr Entschlossenheit.
Der Weg in die Berge mochte gefährlich sein, doch Noah wusste, dass er keine andere Wahl hatte. Was auch immer ihn dort erwartete, er musste es herausfinden. Das Buch, die Wölfe, die Träume – sie führten ihn alle an denselben Ort.
Mit diesem Gedanken legte er sich wieder hin, doch sein Schlaf blieb brüchig und voller Bilder, die ihn nicht losließen. Der Morgen würde bald kommen, und mit ihm der nächste Schritt auf seinem ungewissen Weg.