Kapitel 2 — Träume im Schatten des Wolfes
Noah Bennett
Die Nacht legte sich wie ein schwerer, samtener Vorhang über die Bibliothek, doch Noahs Geist fand keinen Frieden. Das Buch mit der seltsamen, leuchtenden Rune lag schwer in seiner Tasche, als er nach Hause eilte. Seine Schritte hallten durch die stillen Straßen, begleitet von einem Gefühl, das schwer zu fassen war. Es war keine Angst, sondern ein unheimliches, tiefes Kribbeln, das sich wie ein Echo durch seinen Körper zog, als ob etwas in seinem Inneren erwacht wäre.
Sein Apartment, ein kleiner, bescheidener Raum voller Bücherregale und Notizbücher, hatte ihm sonst immer Trost gespendet. Doch heute Nacht wirkte es seltsam fremd. Die Schatten schienen tiefer, die Stille dichter. Noah ließ sich schwer auf das abgenutzte Sofa fallen und zog das Buch hervor. Seine Finger zögerten, über den kalten Ledereinband zu fahren, auf dem sich die eingeritzte Rune unter seinen Berührungen fast lebendig anfühlte.
Das Flüstern, das ihn in der Bibliothek verfolgt hatte, schien in seinem Kopf nachzuklingen, kaum wahrnehmbar, aber da. Eine Mischung aus Neugier und Widerwillen überkam ihn, als er das Buch aufschlug.
Die Seiten waren mit fremdartigen Schriftzeichen bedeckt, die er nicht entziffern konnte. Zwischen den Zeilen schienen Schatten von Bildern zu schimmern – Wölfe, Monde und andere Symbole, die ihn auf unerklärliche Weise fesselten. Als er eine Seite weiterblätterte, stockte ihm der Atem. Vor ihm lag eine grobe Skizze, die wie eine Karte aussah. Die Linien waren ungleichmäßig und zittrig, doch die bergige Landschaft war unverkennbar.
Am Rand der Karte stand ein Name geschrieben: „Eldarhavn“.
Das Wort hallte in ihm wider, als ob es eine Saite tief in seinem Inneren zum Schwingen brachte. Er hatte es noch nie zuvor gehört, doch es fühlte sich vertraut an, wie eine Melodie, die in einem verborgenen Winkel seines Gedächtnisses schlummerte.
Die Karte war nicht einfach nur eine Zeichnung. In den Ecken der Seite waren weitere rätselhafte Symbole eingeritzt, die ihn an die leuchtende Rune auf dem Einband erinnerten. Es war, als ob die Karte selbst etwas verbarg – eine Botschaft, die er noch nicht entschlüsseln konnte.
Noah strich mit den Fingern über die vergilbte Seite, spürte die raue Textur des Papiers, doch die Antworten, die er suchte, blieben aus. Frustriert schlug er das Buch zu, und ein unwillkürliches Frösteln durchlief ihn.
„Was soll das alles bedeuten?“, murmelte er in die Stille des Raumes.
Doch die Stille antwortete ihm nicht.
Er beschloss, sich schlafen zu legen, in der Hoffnung, dass der Schlaf seine Gedanken ordnen würde. Doch sobald er die Augen schloss, fand er sich in einer anderen Welt wieder.
Zunächst war da Dunkelheit. Dann begannen leuchtende Runen vor seinem inneren Auge zu tanzen, wie Sterne, deren Licht durch den Nebel drang. Sie formten Muster, bewegten sich in einer fließenden Harmonie, die ihn gleichermaßen faszinierte und verwirrte.
Plötzlich änderte sich die Szenerie. Noah stand inmitten eines dichten Waldes, dessen mächtige, knorrige Bäume den Himmel verdeckten. Der Wind trug das Heulen von Wölfen mit sich, ein Klang, der ihm durch Mark und Bein ging. Doch statt purer Furcht verspürte er auch ein seltsames Gefühl von Zugehörigkeit, als ob er hierher gehörte, als ob der Wald ihn rief.
Zwischen den Bäumen tauchten silbrige Augen in der Dunkelheit auf, die ihn beobachteten. Die Wölfe traten aus den Schatten, ihre Bewegungen geschmeidig, ihre Augen leuchtend und voller Erwartung. Ihre Anblicke jagten Noah einen Schauer über den Rücken, doch er konnte nicht wegsehen.
„Noah“, flüsterte eine tiefe, resonante Stimme, die aus dem Boden selbst zu kommen schien.
Er drehte sich um und sah eine Gestalt, die ihn erstarren ließ: halb Mensch, halb Wolf, riesig und von überwältigender Präsenz. Ihre glühenden Augen fixierten ihn, und obwohl sie nicht sprach, erfüllte ihre bloße Existenz den Traum mit Bedeutung.
Die Kreatur hob eine Pranke und streckte sie ihm entgegen, als eine plötzliche Helligkeit die Szene durchbrach – und Noah erwachte mit einem Ruck.
Sein Atem ging stoßweise, und Schweiß klebte an seiner Haut. Der Traum war so lebendig gewesen, dass er kurz glaubte, das Heulen der Wölfe noch immer zu hören. Doch es war nur der Wind, der gegen sein Fenster schlug.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es fast Morgen war, doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Er zog seinen Strickpullover über und setzte sich an den kleinen Schreibtisch. Vor ihm lag das Buch, dessen Präsenz ihn durch den Traum begleitet hatte.
Plötzlich ertönte ein leises Klopfen an der Tür. Noah zuckte zusammen, und für einen Moment war er sicher, dass niemand da sein konnte. Doch dann öffnete sich die Tür einen Spalt, und Emily, seine Kollegin aus der Bibliothek, trat ein.
„Noah?“, fragte sie leise, ihre Stirn in Sorge gefurcht. „Alles in Ordnung? Du bist nicht zur Schicht gekommen, und Mr. Whitaker hat mich geschickt, um nach dir zu sehen.“
Er blinzelte sie an, sein Kopf noch immer von den wirren Bildern des Traums gefangen. „Ich… ich habe die Zeit vergessen. Es war eine lange Nacht.“
Sie musterte ihn eingehend und zog die Augenbrauen zusammen. „Du siehst aus, als ob du kein Auge zugetan hättest. Und ehrlich gesagt… du siehst aus, als ob du einem Geist begegnet wärst.“
Noah wollte protestieren, doch sie trat näher und entdeckte das Buch auf seinem Tisch. Ihre Augen verengten sich, und ihre Stimme nahm einen neugierigen, fast besorgten Ton an. „Was ist das? Das sieht… seltsam aus.“
„Nur ein altes Buch aus der Bibliothek“, sagte Noah schnell und legte reflexartig eine Hand darauf. „Nichts Besonderes.“
„Nichts Besonderes?“ Emilys Blick wanderte zwischen ihm und dem Buch hin und her. „Noah, das sieht kein bisschen wie ein gewöhnliches Buch aus.“
Ein Teil von ihm wollte ihr alles erzählen, über die Träume, die Karte, die Stimme im Wald. Doch etwas hielt ihn zurück. Vielleicht war es die Erinnerung an Mr. Whitakers Warnung, oder vielleicht die Gewissheit, dass er selbst noch nicht verstand, was vor sich ging.
„Es ist kompliziert“, murmelte er schließlich.
Emily zögerte, als wollte sie weiter nachhaken, doch dann entschied sie sich anders. Ein schiefes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Du bist kompliziert, Noah. Aber pass auf dich auf, ja? Manchmal verlierst du dich zu sehr in diesen Dingen.“
Er nickte, doch ihre Worte blieben in seinem Kopf hängen, lange nachdem sie gegangen war.
Als die Tür ins Schloss fiel, wandte er sich wieder der Karte zu. Der Name „Eldarhavn“ pulsierte in seinem Verstand wie ein Herzschlag, ein Rätsel, das nach einer Lösung verlangte.
„Vielleicht… muss ich dorthin“, flüsterte er in die Stille.
Es war eine verrückte Idee, das wusste er. Aber etwas sagte ihm, dass dieses Dorf, diese Karte, der Schlüssel war.
Und Noah hatte noch nie gut darin gewesen, Rätsel ungelöst zu lassen.