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Liebesromane an einem Ort

reader.chapterUnter dem Schatten der Vergangenheit


Sophie Keller

Sophie Keller zog den Reißverschluss ihrer Reisetasche zu und ließ ihren Blick durch die leere Wohnung gleiten. Die schlichten weißen Wände schienen sie anzustarren, während die Stille auf ihr lastete wie eine unerwünschte Decke. Es war, als hätte dieser Ort sie längst aufgegeben – genauso, wie sie ihn nun aufgab. Der Verrat lag Wochen zurück, doch das Gefühl der Demütigung brannte immer noch in ihrer Brust, eine Wunde, die sich weigerte, zu heilen. Es war nicht nur Felix’ Untreue, die sie quälte, sondern die Tatsache, dass sie so blind gewesen war. Sie hatte sich selbst verloren, ihm vertraut, bis nichts mehr von ihr übrig war.

Mit einem tiefen Atemzug nahm sie die Tasche und schloss die Tür hinter sich, als würde sie damit die Tür zu einem vergangenen Kapitel versiegeln. Draußen wartete das Taxi, der Motor lief bereits leise vor sich hin. Niemand war da, um ihr zuzuwinken oder sich zu verabschieden – aber das war nichts Neues. Sophie hatte schon früh gelernt, allein klarzukommen, hatte sich mit der Einsamkeit arrangiert, auch wenn sie manchmal erdrückend war.

Die Fahrt zum Bahnhof war geprägt von einer unaufdringlichen Stille. Der graue Himmel spannte sich wie ein trüber Schleier über die Landschaft, und die Felder und Wälder zogen in melancholischer Gleichgültigkeit an ihr vorbei. Als der Zug schließlich den Bodensee erreichte, glitzerte die ruhige Wasseroberfläche wie ein Spiegel, ein Bild von Täuschung und Verborgenheit. Sophie fragte sich, ob dieser Ort sie heilen oder endgültig in die Tiefe ziehen würde. Sie wusste nur, dass sie es versuchen musste. Frankfurt war voller Geister, und Lindau bot die Möglichkeit, neu zu beginnen – oder zumindest die Vergangenheit hinter sich zu lassen.

Ihre neue Wohnung lag in einer verwinkelten Seitenstraße, nur wenige Schritte vom See entfernt. Die Fachwerkhäuser mit ihren bunten Fensterläden, die engen Kopfsteinpflastergassen, die sich wie Adern durch die Altstadt zogen – all das wirkte wie aus einer anderen Zeit und hatte etwas Beruhigendes. Sophie ließ ihre Tasche neben der Tür fallen und atmete tief ein. Der Duft von Holz, Seeluft und einem Hauch frischer Farbe erfüllte den Raum und mischte sich mit einer vertrauten Leere.

Sie ließ sich auf das schlichte Sofa sinken, das schon bessere Tage gesehen hatte, und wandte den Blick zum Fenster. Der See erstreckte sich wie eine endlose Weite vor ihr, ein Friedensversprechen, das sie seltsam rastlos machte. Die Nebel, die über dem Wasser schwebten, wirkten wie ein Schleier aus Geheimnissen, der sie einzuladen schien, näher zu kommen.

Am nächsten Morgen begann ihr erster Arbeitstag in der Werkstatt für Buchrestauration. Die kleine Glocke über der Tür klingelte, als sie eintrat, und der warme Duft von Pergament und Leder hüllte sie ein wie ein wohlwollender Mantel. Das Atelier war hell und einladend, mit hohen Fenstern, durch die das Morgenlicht die Arbeitsflächen aus hellem Holz erleuchtete. Regale voller Bücher in allen Größen und Zuständen reihten sich an den Wänden entlang, und jede Seite schien eine Geschichte aus vergangenen Zeiten zu erzählen.

„Ah, du musst Sophie sein!“ Eine Frau mit kurzen, blonden Haaren und einem herzlichen Lächeln trat auf sie zu. „Willkommen! Ich bin Anna. Freut mich, dich endlich kennenzulernen.“

Sophie zögerte kurz, bevor sie ihre Hand ausstreckte. „Sophie Keller. Danke. Freut mich auch.“

Anna schüttelte ihre Hand mit einer aufrichtigen Herzlichkeit, die Sophie gleichzeitig irritierte und beruhigte. „Keine Sorge, wir haben schon gehört, dass du ein echtes Talent bist. Ich zeige dir alles, und dann kannst du dich in Ruhe einarbeiten.“

Die nächsten Stunden vergingen in einem angenehmen Rhythmus. Anna führte Sophie durch die Werkstatt, zeigte ihr die verschiedenen Bereiche und Werkzeuge, und Sophie fühlte sich schnell in ihrem Element. Die Arbeit mit den alten Büchern ließ sie ihre Sorgen für eine Weile vergessen. Es war eine Welt, in der sie sich sicher fühlte, in der alles geordnet und kontrollierbar war – im Gegensatz zu ihrem eigenen Leben.

Am Nachmittag saß sie allein an ihrem Tisch und begutachtete ein altes Manuskript, dessen Pergamentseiten von der Zeit gezeichnet waren. Ihre Finger glitten behutsam über die verblassten Buchstaben, während sie die Struktur des Einbands prüfte. Sie liebte diesen Prozess, das Gefühl, etwas Zerbrechliches zu bewahren, etwas, das die Jahrhunderte überdauert hatte. Es war eine Arbeit, die sie mit sich selbst in Einklang brachte, auch wenn die Welt um sie herum chaotisch war.

Doch trotz der Ruhe in der Werkstatt konnte Sophie ihre Gedanken nicht vollständig kontrollieren. Immer wieder drängten sich Erinnerungen an Felix in den Vordergrund – an die Art, wie er sie angesehen hatte, wie sie dachte, er würde sie lieben, nur um zu erfahren, dass er längst jemand anderen bevorzugte. Der Schmerz war überwältigend, wie ein Messer, das immer wieder dieselbe Wunde aufschnitt.

Nach Feierabend beschloss Sophie, die Altstadt zu erkunden. Die schmalen Gassen waren in das goldene Licht der Abendsonne getaucht, und die Luft trug den Duft von frischen Blumen und dem See mit sich. Es hätte ein friedlicher Moment sein können, wenn nicht dieses unterschwellige Unbehagen gewesen wäre, das sie begleitete.

Es begann als leichtes Prickeln im Nacken, ein Gefühl, das sie dazu brachte, sich immer wieder umzusehen. Die Gassen waren leer, die Schatten der Fachwerkhäuser lang und unbeweglich. Doch je weiter sie ging, desto stärker wurde das Gefühl, beobachtet zu werden.

Einmal glaubte sie, eine Bewegung am Rande ihres Sichtfelds wahrzunehmen, doch als sie sich umdrehte, war da nichts. Ihr Herz schlug schneller, und ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, suchte nach einer rationalen Erklärung. Vielleicht war es nur die Müdigkeit, die ihr Streiche spielte, oder die ungewohnte Umgebung, die sie aufgewühlt hatte.

Als sie schließlich am Ufer des Sees ankam, blieb sie stehen und ließ den Blick über das glitzernde Wasser schweifen. Der Nebel schien lebendig, kroch wie ein stiller Beobachter über die Oberfläche und flüsterte Geschichten, die sie nicht verstehen konnte. Es war, als würde der See selbst sie dazu einladen, tiefer zu blicken, über die Reflexion hinaus, in etwas, das jenseits ihrer Vorstellungskraft lag.

Sophie zog ihren Schal enger um sich und beschloss, zurückzugehen. Doch das Gefühl, beobachtet zu werden, blieb bei ihr, ein ständiger Begleiter, der ihre Schritte beschleunigte. Die Stille der Gassen war drückend, und jeder Schatten schien sich auf subtile Weise zu verändern, als würde er sie verfolgen.

Zurück in ihrer Wohnung schloss sie die Tür hinter sich und lehnte sich schwer gegen das Holz. Sie lauschte der Stille um sie herum, suchte nach einem Anhaltspunkt, der die Unruhe in ihr erklären konnte. Doch nichts geschah.

Als sie schließlich ins Bett ging, war ihr klar, dass dies mehr war als ein einfacher Neuanfang. Es war, als hätte sie eine Geschichte betreten, die lange vor ihr begonnen hatte und deren Fäden sie nun unweigerlich umschlungen. Und im Dunkel der Nacht, während der Bodensee in der Ferne glitzerte, konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass dies erst der Anfang war.