Kapitel 3 — Das Anwesen der verborgenen Geheimnisse
Sophie Keller
Sophie stand am frühen Morgen am Ufer des Bodensees, den leichten Wind im Gesicht und die Visitenkarte von Alexander von Wolfenberg fest in der Hand. Seine Worte hatten sich in ihrem Kopf festgesetzt, wie ein wiederkehrendes Echo, das sie nicht losließ. Die Insel Reichenau, das Anwesen, die Manuskripte – all das hatte etwas Mystisches und Beunruhigendes an sich. Gleichzeitig spürte sie eine unbestimmte Neugier, die sie nicht ignorieren konnte. Es fühlte sich an, als würde sie nicht nur einen neuen Auftrag annehmen, sondern in ein Geheimnis eintauchen, das weit über ihre Vorstellungskraft hinausging.
Sie atmete tief durch, als das kleine Boot, das sie abholen sollte, anlegte. Der Bootsführer, ein schweigsamer Mann mittleren Alters, nickte ihr knapp zu, bevor er mit geübten Bewegungen die Leinen löste. Das Wasser glitt ruhig unter ihnen dahin, während sich die Insel Reichenau langsam aus dem Frühnebel erhob.
Die Fahrt war still, bis auf das leise Plätschern der Wellen und das rhythmische Knarren der Ruder. Sophie konnte ihre Gedanken nicht abschalten. Irgendetwas an diesem Ort fühlte sich anders an, fast als würde die Insel sie rufen. Sie erinnerte sich an die Geschichten ihrer Kindheit, an flüsternde Stimmen und düstere Gestalten, die angeblich auf der Insel umhergingen. Damals hatte sie solche Geschichten für bloßen Aberglauben gehalten. Jetzt jedoch schien alles viel weniger klar.
Als das Boot am Steg anlegte, half der Mann ihr wortlos heraus, bevor er selbst wieder auf das Wasser hinausruderte. Sophie blieb einen Moment stehen und ließ die Umgebung auf sich wirken. Die Luft war kühl und schwer, durchzogen vom Geruch von Moos und feuchtem Holz. Der Weg vom Steg führte durch einen schmalen Pfad, der von alten Linden gesäumt war, deren Äste sich wie eine Schutzkuppel über ihr schlossen.
Auf halbem Weg fiel ihr ein Symbol auf, das in die Rinde eines der Bäume eingeritzt war. Ein Halbmond, kunstvoll umrahmt von seltsamen Linien. Sie blieb stehen und musterte es, spürte ein seltsames Prickeln in ihrem Nacken. Es war vertraut, doch sie konnte nicht sagen, warum. Ein plötzlicher Windstoß ließ die Blätter rascheln, und sie schüttelte den Gedanken ab, bevor sie weiterging.
Nach wenigen Minuten erreichte sie das Anwesen von Wolfenberg. Es erhob sich majestätisch auf einer leichten Anhöhe, ein imposanter Bau aus dunklem Stein, der von Efeu überwuchert war. Verwitterte Gargoyles blickten von den Mauervorsprüngen herab, ihre Gesichter verdreht in grimmigen Ausdrücken. Die großen Fenster und die hohen Türme verliehen dem Gebäude ein beinahe überirdisches Aussehen, wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Sophie spürte, wie sie tief durchatmen musste. Es war, als würde das Anwesen eine eigene Präsenz besitzen, die sie auf eine seltsame Weise einschüchterte.
Am Eingang erwartete sie ein Mann, den sie schnell als Alexanders Assistent erkannte. Er war groß gewachsen, mit einem markanten Gesicht und einer kühlen, professionellen Ausstrahlung. „Frau Keller?“ fragte er und verbeugte sich leicht. „Ich bin Johannes. Herr von Wolfenberg hat mich gebeten, Sie zu empfangen und Ihnen das Anwesen zu zeigen.“
„Vielen Dank“, antwortete Sophie, bemüht, ihre Unsicherheit zu verbergen.
Johannes öffnete die massiven Holztüren, die ein leises Knarren von sich gaben, als sie sich aufschwangen. Das Innere des Anwesens war überwältigend. Sophie fand sich in einer großen Eingangshalle wieder, deren Decke hoch aufragte und von kunstvollen Fresken geschmückt war. Der Boden bestand aus poliertem Stein, und das Geräusch ihrer Schritte hallte in der Stille wider. Die Luft war kühl, durchzogen von einem Hauch von altem Holz und Leder, gemischt mit einer Spur von etwas Undefinierbarem, das sie nicht einordnen konnte.
Johannes führte sie durch mehrere Gänge, vorbei an schweren Türen und Wandteppichen, die Szenen aus vergessenen Zeiten darstellten. „Das Anwesen ist seit Jahrhunderten im Besitz der Familie von Wolfenberg“, erklärte er, während sie gingen. „Jeder Raum hier erzählt eine Geschichte, wenn man genau hinsieht.“
Sophies Blick wanderte zu den Gemälden, die an den Wänden hingen. Die Gesichter darauf schienen sie zu beobachten, ihre Augen lebendig und durchdringend. Sie konnte nicht anders, als zu fühlen, dass diese Mauern mehr Geheimnisse bargen, als sie preisgaben.
Nach einer Weile blieb Johannes vor einer großen Doppeltür stehen. „Die Bibliothek“, sagte er und öffnete die Türen für sie, bevor er hinzufügte: „Einer der beeindruckendsten Räume im Haus. Aber auch ein Raum, in dem die Vergangenheit lebendig ist.“
Sophie hielt inne, bevor sie eintrat. Die Bibliothek war ein Traum für jeden, der Bücher liebte. Hohe Regale, die bis zur Decke reichten, waren gefüllt mit Bänden, deren Einbände vom Alter und der Geschichte zeugten. Das Licht, das durch die großen Fenster fiel, tauchte den Raum in ein gedämpftes Leuchten, während der Duft von Pergament und altem Papier die Luft erfüllte.
„Herr von Wolfenberg wird gleich bei Ihnen sein“, sagte Johannes und deutete auf einen großen Tisch in der Mitte des Raumes, der sorgfältig mit Manuskripten und Werkzeugen für die Restaurierung vorbereitet war. „Bitte machen Sie es sich bequem.“
„Vielen Dank“, antwortete Sophie, doch ihre Stimme klang abwesend. Ihre Aufmerksamkeit war bereits auf die Manuskripte gerichtet.
Ihre Finger strichen unwillkürlich über die Oberfläche eines der Bücher, und ein Schauer lief ihr über die Haut. Diese Manuskripte hatten etwas an sich, eine Energie, die sie nicht beschreiben konnte. Sie konnte die Augen nicht von einem bestimmten Einband lösen – darauf war ein Symbol eingraviert, ähnlich dem Halbmond, den sie draußen gesehen hatte.
Die Tür öffnete sich erneut, und sie hörte Schritte hinter sich. Als sie sich umdrehte, stand Alexander von Wolfenberg dort, seine Präsenz so stark und unnahbar wie bei ihrer ersten Begegnung. Doch in der Umgebung seines Anwesens wirkte er noch imposanter, fast wie ein Teil des Gebäudes selbst.
„Frau Keller“, begrüßte er sie mit einem knappen Nicken. Seine eisblauen Augen schienen sie erneut zu durchbohren, als ob er all ihre Gedanken lesen könnte. „Willkommen auf meinem Anwesen. Ich hoffe, die Überfahrt war angenehm.“
„Ja, danke“, antwortete Sophie, bemüht, dem Gewicht seines Blicks standzuhalten.
Er trat näher und deutete auf die Manuskripte auf dem Tisch. „Das ist ein kleiner Teil der Sammlung. Einige von ihnen sind in einem bedenklichen Zustand, und ich vertraue darauf, dass Sie sie mit der Sorgfalt behandeln, die sie verdienen.“
„Natürlich“, erwiderte Sophie, ihre Aufmerksamkeit auf die Bücher richtend. Doch eine Frage brannte ihr auf der Zunge, und bevor sie sich zurückhalten konnte, fragte sie: „Warum sind diese Manuskripte so wichtig für Sie?“
Alexander hielt inne, und für einen Moment glaubte sie, eine Spur von Zögern in seinen Augen zu sehen. „Diese Manuskripte sind nicht nur ein Teil meiner Familiengeschichte, sondern auch ein Schlüssel zu… bestimmten Erzählungen, die unsere Vergangenheit und Zukunft beeinflussen.“
Seine Antwort war so vage, dass sie mehr Fragen aufwarf, als sie beantwortete. Doch bevor sie nachhaken konnte, trat Alexander einen Schritt näher. „Ich hoffe, Sie verstehen, dass Diskretion bei diesem Auftrag von größter Bedeutung ist.“
Sophie spürte, wie ihre Kehle trocken wurde. „Natürlich. Ich werde Ihre Erwartungen nicht enttäuschen.“
Ein leichtes Nicken war seine Antwort, bevor er sich von ihr abwandte. „Johannes wird Ihnen alles Weitere erklären. Ich überlasse Sie Ihrer Arbeit.“
Mit diesen Worten verschwand Alexander, und Sophie blieb allein in der Bibliothek zurück. Sie atmete tief durch und versuchte, die Eindrücke zu ordnen, die auf sie eingestürmt waren. Doch das Gefühl von Unruhe ließ sie nicht los. Dieses Haus, diese Manuskripte, Alexander selbst – all das fühlte sich an wie der Anfang eines Puzzles, dessen Bild sie nicht erkennen konnte.
Sie setzte sich an den Tisch und begann, vorsichtig eines der Manuskripte zu öffnen. Ihre Finger glitten über die vergilbten Seiten, und für einen Moment konnte sie sich in ihrer Arbeit verlieren. Doch die Schatten in den Ecken des Raumes und die leisen Geräusche des alten Hauses erinnerten sie immer wieder daran, dass sie sich in einer Welt befand, die weit mehr Geheimnisse barg, als sie begreifen konnte.