Kapitel 1 — Gejagt im Dunkel
Alina
Die Nacht war eine undurchdringliche Wand aus Schwarz. Der Schwarzwald verschlang das fahle Licht des Mondes, und Alina bewegte sich durch die Dunkelheit, als wäre sie ein Teil von ihr. Ihr Atem ging schnell, aber kontrolliert, während ihre Füße lautlos auf dem moosbedeckten Boden aufsetzten. Sie wusste, dass jeder Fehltritt ihr letzter sein konnte. Hinter ihr drangen die lauten Schritte ihrer Verfolger durch das Dickicht, das Knistern von Ästen und das ferne Heulen von Wölfen vermischten sich zu einem Klangteppich der Jagd. Sie waren nah – viel zu nah.
Jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt. Die Jahre in der Wildnis hatten sie gelehrt, dass der Wald nicht nur eine Zuflucht sein konnte, sondern auch ein Labyrinth voller tödlicher Fallen. Sie duckte sich unter tiefhängende Äste und spürte die rauen Rinden der Bäume an ihren Fingerspitzen. Ihre hellgrauen Augen, scharf wie die eines Luchses, suchten die Dunkelheit ab, während ihre Sinne die Umgebung nach einer Möglichkeit absuchten, die Verfolger abzuschütteln. Da war etwas – ein Geruch, feucht und mineralisch – Erde und Stein. Ein Abgrund war ganz in der Nähe. Sie konnte es fühlen, fast so, als ob der Wald selbst sie warnen wollte. Wenn sie die Söldner dorthin locken könnte, hätten sie vielleicht keine Wahl, als die Verfolgung abzubrechen.
Ein Ast knackte nur wenige Meter hinter ihr, und Panik stieg in ihrer Brust auf. Doch sie unterdrückte sie mit eiserner Disziplin. „Nicht jetzt“, murmelte sie kaum hörbar zu sich selbst. Ein plötzlicher Impuls durchfuhr sie, eine Klarheit, die sie immer in den Momenten größter Gefahr heimsuchte. Ihre Beine trugen sie schneller vorwärts, ihre Schritte wurden noch leiser. Inmitten des Chaos ihrer Gedanken tauchte ein Bild auf – das Gesicht ihres Vaters, das sich in Enttäuschung verzog, als sie sich weigerte, seinen Befehlen zu gehorchen. Seine Worte hallten in ihrem Geist wider: „Du bist mehr wert als dein eigenes Leben.“ Ein Werkzeug, nichts weiter. Sie schüttelte den Gedanken ab. Sie musste überleben. Alles andere hatte keinen Platz hier.
Eine Stimme schnitt durch die Dunkelheit, tief und mit einer schneidenden, fast triumphalen Schärfe: „Alina! Du kannst nicht entkommen!“ Der Anführer der Söldner. Diese Stimme – sie war wie eine Kette, die sie an ihre Vergangenheit fesseln wollte. Ihr Schritt stockte für den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie sich zwang, weiterzulaufen. Sein Ton klang nicht nur bedrohlich, er enthielt auch eine grausame Vertrautheit. Er hatte sie schon früher gejagt – damals, in dem Moment, in dem sie die Grenze des Rudels überschritten hatte. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter, doch sie biss die Zähne zusammen. Er kannte sie, aber er hatte keine Ahnung, wie sehr sie sich verändert hatte. Der Wald war in ihrem Blut, und sie war mehr als nur eine Omega.
Alina erreichte eine kleine Lichtung, kaum erkennbar im Schatten der Bäume. Der Boden war feucht, glitschig, bedeckt mit dichtem Moos und schimmernden Farnen, die sich leicht in der Nachtluft wiegten. Sie blieb für einen flüchtigen Moment stehen und lauschte. Die Söldner waren nahe. Sie konnte ihre schweren Stiefel hören, wie sie Äste zerbrachen und Steine umstießen. Mindestens fünf, vielleicht sechs Männer, schätzte sie. Sie waren viele, mehr als sie erwartet hatte. Ihr Rudel nahm die Jagd ernst. Es war nicht nur eine Frage der Ehre – es ging um Kontrolle. Um die Macht, sie wieder zu unterwerfen. Der Gedanke ließ ihre Kehle enger werden, doch sie unterdrückte die Furcht. Jetzt war keine Zeit. Sie griff in ihre Tasche und zog zwei kleine Beutel hervor.
Mit präzisen Bewegungen warf sie die Beutel in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Ein dumpfes Zischen ertönte, und eine Wolke aus feinem, beißendem Pulver erfüllte die Luft. Alina hatte es selbst hergestellt, aus getrockneten Kräutern und einer giftigen Pilzart, die tief im Schatten des Waldes wuchs. Die Söldner husteten und fluchten, ihre Stimmen voller Wut und Schmerz. „Verdammte Hexerei!“ schrie einer von ihnen, bevor er in einen heftigen Hustenanfall verfiel.
Alina nutzte den Moment. Sie schob sich in die Schatten des Waldes, ihre Bewegungen lautlos, während sie sich an die Rinde eines Baumstamms drückte. Sie wurde eins mit der Dunkelheit, unsichtbar, nur ein Teil der Landschaft. Die Söldner stolperten blindlings an ihr vorbei, ihre schweren Schritte wurden immer leiser, bis sie schließlich in der Ferne verklangen.
Die Minuten zogen sich, während Alina reglos blieb. Ihr Herzschlag beruhigte sich allmählich, und sie lauschte angestrengt. Doch außer den Geräuschen des Waldes – dem Rascheln der Blätter, dem fernen Knurren eines Tieres – war nichts zu hören. Schließlich wagte sie es, sich zu bewegen, und schlich lautlos in die entgegengesetzte Richtung.
Ihre Gedanken drifteten, während sie lief. Sie erinnerte sich an die Gesichter ihres Rudels, an ihre Familie. An die abschätzigen Blicke ihres Vaters, die ihr jedes Mal das Gefühl gaben, weniger als nichts zu sein. Doch da war auch ihre Mutter, die sie einst spät in der Nacht in den Arm genommen und geflüstert hatte: „Du bist stärker, als du glaubst.“ Dieser Satz hatte sie nie vergessen, auch nicht in den dunkelsten Momenten. Sie war stark. Sie musste es sein.
Ein Geräusch durchbrach ihre Gedanken. Es war leise, aber eindeutig. Ein Knurren, tief und vibrierend, so nah, dass es ihr die Härchen im Nacken aufstellte. Langsam drehte sie sich um und erblickte leuchtende Augen, die sie aus dem Dickicht heraus fixierten. Ein Wolf, groß und silbern im Schatten des Waldes. Er bewegte sich geschmeidig, fast lautlos, während er näher kam. Seine Augen wirkten unnatürlich – nicht nur wild, sondern auch wissend. Alina erstarrte, ihre Hand zuckte unwillkürlich zu dem Dolch an ihrem Gürtel.
Doch der Wolf blieb stehen. Er hob den Kopf und schnüffelte in ihre Richtung. Sein Verhalten war seltsam – kein Angriff, sondern eher eine stille Prüfung. Alina wagte nicht zu atmen, wagte nicht, sich zu bewegen. Sie fühlte etwas, das sie nicht benennen konnte, etwas, das tief in ihrem Inneren widerhallte. Eine Verbindung, die sie weder verstand noch erklären konnte.
Nach einer Ewigkeit – oder war es nur ein Augenblick? – wandte sich der Wolf ab und verschwand im Unterholz. Alina blieb zurück, die Stille um sie herum drückend und schwer. Ihre Hände zitterten leicht, doch sie ballte sie zu Fäusten. Was auch immer gerade passiert war, es war nicht normal. Es war nicht natürlich. Und doch – es war auch keine Bedrohung gewesen. Noch nicht.
Das Heulen der Wölfe ertönte erneut, diesmal lauter, durchdringender. Ihre Verfolger hatten ihre Spur wieder aufgenommen. Alina klammerte sich an ihre Entschlossenheit, schob die Erschöpfung beiseite und lief tiefer in die Dunkelheit des Waldes hinein. Die Schatten um sie her schienen lebendig zu werden, die Luft war schwer und pulsierte beinahe. Doch sie wusste eines mit absoluter Sicherheit: Sie würde niemals zurückkehren. Nicht ohne einen Kampf. Der Wald war ihr Verbündeter – und zugleich ihr Richter.