App herunterladen

Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Der Ruf der Nebellichtung


Rafael

Die Stille des Waldes war nicht gewöhnlich. Sie war schwer, beinahe greifbar, als würde der Schwarzwald selbst den Atem anhalten. Rafael stand reglos zwischen den uralten Bäumen, die wie stumme Riesen um ihn herum aufragten. Die feuchte Erde unter seinen Stiefeln vibrierte sanft, ein kaum wahrnehmbares Summen, das ihn irritierte. Bernsteinfarbene Augen blickten angespannt in die Schatten, wo der Nebel wie ein Lebewesen zwischen den Stämmen kroch.

Es war nicht das erste Mal, dass der Wald ihn rief, doch diesmal war es anders. Der Ruf war intensiver, dringlicher – ein Ziehen, das ihm keine Wahl ließ. Es war, als würde die Erde selbst nach ihm greifen, ihn durch eine unsichtbare Hand in die Tiefe des Schwarzwalds locken. Aber war es eine Einladung oder eine Warnung? Die Unruhe in seiner Brust nahm mit jedem Herzschlag zu.

Er strich sich eine lose Haarsträhne aus der Stirn und atmete tief durch. Die kühle, feuchte Luft des Waldes füllte seine Lungen, doch sie brachte keine Ruhe. Stattdessen schürte sie das Brodeln in seinem Inneren, ein Gefühl, das er nicht benennen konnte.

„Was willst du mir zeigen?“ murmelte er leise und lauschte der Antwort, doch seine Stimme wurde von der Düsternis verschluckt.

Ein Windstoß fuhr durch die Äste über ihm, und Rafael spürte, wie die Energie des Waldes dichter wurde, schwerer. Ein Gefühl des Beobachtetwerdens kroch ihm den Rücken hinauf, ein Prickeln, das sich über seine Haut ausbreitete. Das Summen der Erde unter seinen Füßen intensivierte sich, und mit ihm wuchs ein seltsamer Druck in seiner Brust – keine Angst, sondern eine Mischung aus Ehrfurcht und Vorahnung.

Er setzte sich in Bewegung, folgte dem unsichtbaren Ruf, der ihn tiefer in den Wald zog. Mit jedem Schritt wurde die Welt um ihn herum stiller. Selbst das übliche Rascheln von Laub oder das entfernte Heulen eines Wolfes verstummte, als hätte der Wald selbst beschlossen, zu schweigen. Der Nebel schien dichter zu werden, verschlang die Baumstämme und verwandelte die Dunkelheit in eine schimmernde, silbrige Wand, die jedes Gefühl für Raum und Zeit verzerrte.

Rafael wusste, dass er der Nebellichtung nahe war. Der Ort war voller Geschichten und Aberglauben, ein Ort, den selbst die Mutigsten seines Rudels mieden. Aber er war kein gewöhnlicher Wolf. Als Alpha war es seine Pflicht, den Geheimnissen des Waldes auf den Grund zu gehen. Und als Mann, der sein Leben lang gegen innere Rastlosigkeit ankämpfte, konnte er den Ruf nicht ignorieren.

Seine Schritte verlangsamten sich, als sich vor ihm die schmale Lichtung öffnete. Der Nebel hing wie ein unruhiges Meer in der Luft, bewegte sich träge und doch lebendig. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich weich und feucht an, fast nachgiebig, und das leise Tropfen von Wasser von den Blättern über ihm war das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach.

Rafael blieb am Rand der Lichtung stehen. Etwas an diesem Ort war anders – nicht feindselig, aber auch nicht einladend. Es war, als ob die Lichtung ihn prüfte, seine Absichten hinterfragte. Einen Moment lang schloss er die Augen und lauschte der Stille. Er ließ den Wald zu ihm sprechen, spürte, wie die Magie ihn durchdrang, wie eine unsichtbare Welle von Energie, die seine Muskeln anspannte und seine Sinne schärfte.

Da war es. Der Ruf. Keine Stimme, keine Worte – nur ein Ziehen tief in seiner Brust, ein unwiderstehlicher Drang, der ihn vorwärts lockte.

Er trat vor, und der Nebel umspielte seine Beine wie lebendige Finger. Mit jedem Schritt verwischte die Welt um ihn herum mehr, als wäre die Lichtung ein Übergang zwischen dieser und einer anderen, fremden Dimension. Sein Herzschlag beschleunigte sich, eine Mischung aus Erregung und Unbehagen.

Dann geschah es. Eine Welle von Emotionen durchzuckte ihn, so stark, dass er kurz innehalten musste. Bilder flackerten vor seinem inneren Auge auf – bruchstückhafte Visionen, die ihn überwältigten. Eine Gestalt, verschwommen und doch vertraut. Ein Paar grauer Augen, so klar und intensiv, dass sie ihn durchbohrten. Verlust. Hoffnung. Und etwas, das er nicht ganz begreifen konnte.

„Alina,“ flüsterte er. Der Name kam ihm über die Lippen, bevor er ihn bewusst gedacht hatte. Es war, als hätte der Wald ihn ihm eingeflüstert. Seine Augen weiteten sich bei der Erkenntnis.

Alina. Die Gejagte, die Rebellin. Sie war mehr als nur ein Dorn im Fleisch der Rudel. Rafael hatte sie nur ein einziges Mal gesehen, und doch hatte sich ihr Bild in sein Gedächtnis gebrannt. Ihre Entschlossenheit, ihre Wildheit – sie erinnerte ihn an sich selbst, an den gleichen unbändigen Drang nach Freiheit. Aber warum sie? Warum rief der Wald ihn hierher?

Der Nebel verdichtete sich, und Rafael kniete sich nieder, legte eine Hand auf den feuchten, kühlen Boden. Die Magie des Waldes pulsierte unter seinen Fingern, durchdrang ihn, als würde sie seine Gedanken und Gefühle erforschen.

„Zeig mir,“ forderte er, seine Stimme fester als zuvor.

Die Antwort kam sofort. Ein plötzlicher Windstoß ließ den Nebel wirbeln, und die Lichtung schien zu leben. Die Visionen kehrten zurück, klarer, intensiver. Rafael sah Alina, wie sie durch den Wald rannte, ihr Atem schwer, ihre Schritte entschlossen. Er spürte ihre Angst und ihre Erschöpfung, aber auch ihre Stärke, die unerschütterliche Wildheit, die sie vorantrieb.

Doch Dunkelheit kroch heran. Schatten, lebendig und kalt, jagten sie, verschlangen die Bäume um sie herum. Rafael fühlte die Bedrohung, die von ihnen ausging, das Gewicht ihrer Kälte, das tiefer kroch als nur in die Knochen. Die Söldner waren nur ein Teil der Gefahr – diese Schatten waren etwas Größeres, Dunkleres, etwas, das er noch nicht verstand.

Sein Herz zog sich zusammen, als er ihre Verzweiflung spürte, und gleichzeitig erwachte etwas in ihm, ein brennendes Bedürfnis, sie zu erreichen, sie zu beschützen. Die Vision brach ab, und Rafael fand sich keuchend auf der Lichtung wieder.

Die Magie des Waldes war noch immer stark, doch er wusste, dass sie ihm alles gezeigt hatte, was er in diesem Moment wissen musste. Alina war der Schlüssel – nicht nur für den Wald, sondern auch für ihn. Sie zu finden, bedeutete mehr als nur sie zu retten. Es bedeutete, die Wahrheit zu finden, die unter all den Schatten verborgen lag.

Er erhob sich, und seine Augen funkelten vor Entschlossenheit. Was auch immer ihre Verbindung war, er würde es herausfinden. Und er würde sie schützen – vor den Schatten, vor den Söldnern, vor allem, was ihr schaden wollte.

Mit einem letzten Blick auf die Lichtung wandte er sich ab und verschwand im Nebel. Der Wald hatte ihm eine Aufgabe gegeben. Jetzt war es an ihm, zu handeln.