Kapitel 3 — Echo der Vergangenheit
Alina
Der Nebel hing wie ein schwerer Schleier zwischen den Bäumen, zäh und unnachgiebig, als wolle er sie daran hindern, weiterzugehen. Alinas Atem ging flach, ihre Schritte waren kaum mehr als das leise Nachgeben der matschigen Erde unter ihren Stiefeln. Hier war der Wald anders – fremdartig, unwirklich. Das Blätterdach, das sie sonst schützend umgab, fühlte sich plötzlich wie ein Käfig an. Die Stille war so vollkommen, dass selbst ihr eigener Herzschlag wie ein Echo in ihren Ohren widerhallte.
Sie blieb stehen, zog die Kapuze ihrer Jacke fester über den Kopf, als wäre sie ein Schutzschild gegen die drückende Präsenz des Waldes. Die Nebellichtung. Der Name allein hatte sie immer mit einer tiefen Unruhe erfüllt. Ein Ort, an dem die Grenzen zwischen Leben und Schatten verschwimmen, hieß es in den Geschichten. Und doch hatte sie keine Wahl. Ihre Verfolger waren hinter ihr, ihre Fährte womöglich nah. Aber sie wusste instinktiv, dass das größere Risiko nicht vor, sondern hinter ihr lauerte.
Die Luft war dicht, beinahe erstickend, als würde sie sich in ihren Lungen festsetzen. Jede Bewegung, jeder Schritt schien die Zeit zu dehnen, und die Geräusche der Welt wurden immer leiser. Kein Rascheln von Blättern, kein Knacken von Zweigen, nicht einmal der summende Klang von Insekten. Es war, als hätte der Wald aufgehört zu atmen.
Ein Zittern lief Alina über den Rücken, als sie kurz innehielt. Etwas war da – eine Präsenz, die mehr gespürt als gesehen wurde. Ein Summen drang in ihren Kopf. Es war leise, rhythmisch, fast wie ein ferner Herzschlag, der nicht ihrer war. Sie biss die Zähne zusammen, versuchte das Gefühl zu ignorieren, doch es ließ nicht nach. Der Wald sprach zu ihr, flüsterte ihr etwas in einer Sprache zu, die sie nicht verstand, aber die sich seltsam vertraut anfühlte.
Ihre Schritte verlangsamten sich, und sie zwang sich, die Augen wachsam zu halten. Die Nebel wurden dichter, sie bewegten sich seltsam, wie mit einer Absicht, die sie nicht einordnen konnte. Schwache Bewegungen zeichneten sich im silbrigen Schleier ab, und Alina spürte ein Ziehen in ihrer Brust, ein Drängen, der Bewegung zu folgen.
„Warum fühle ich das?“ flüsterte sie, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch, der sofort von der Stille verschluckt wurde.
Die Antwort kam nicht in Worten. Es war ein Gefühl, ein leichtes Pulsieren, das tief in ihr begann und ihre Gedanken übernahm. Der Nebel schien ihre innersten Zweifel und Ängste zu greifen, sie zu verstärken. Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Atem, und sie ging weiter, ihre Beine schwer wie Blei.
Plötzlich öffnete sich der Wald vor ihr, und die Lichtung lag da, abrupt und unvorhersehbar. Der Nebel umhüllte den sumpfigen Boden, der mit leuchtenden Pilzen übersät war, deren bläuliches Licht geisterhaft schimmerte. Die Luft war kühler, der Duft von Erde und Verfall stieg ihr in die Nase. Die Pilze warfen ein schwaches Leuchten auf die wabernden Nebel, die in hypnotischen Kreisen tanzten.
Das Summen in ihrem Kopf wurde lauter, fast unerträglich, und sie presste instinktiv die Hände an die Schläfen. Sie fühlte sich beobachtet, und doch war da niemand. Ihre grauen Augen wanderten über die Lichtung, suchten nach etwas Greifbarem – nach einem Hinweis, einer Erklärung.
Dann geschah es. Ein plötzlicher Schwall von Bildern durchzuckte ihren Geist, so heftig, dass sie das Gleichgewicht verlor und auf die Knie sank. Ihre Finger gruben sich in die feuchte Erde, während die Visionen sie überrollten.
Sie war nicht mehr auf der Lichtung. Schatten umgaben sie, und aus der Dunkelheit tauchten Gesichter auf – vertraut, aber verzerrt. Die Augen ihres Vaters blitzten, kalt und unerbittlich, und seine Stimme hallte durch ihre Gedanken: „Warum hast du uns verlassen, Alina?“
Die Härte seiner Worte schnitt tief, und Alina fühlte eine Welle aus Schuld und Schmerz, die sie fast überwältigte. Sie wollte antworten, wollte schreien, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt.
Dann änderte sich die Vision. Sie sah sich selbst, jünger, mit zerzaustem Haar und weit aufgerissenen Augen, wie sie durch den Wald rannte. Schmerzhafte Schreie hallten hinter ihr, ihr Rudel, das sie verfolgte. Die Angst und die Verzweiflung von damals kehrten zurück, durchdrangen sie, als wäre sie wieder dieses Mädchen, allein und ohne Ausweg.
„Es war nie deine Entscheidung,“ flüsterte eine andere Stimme, sanfter, aber nicht weniger eindringlich. Sie kannte diese Stimme. Ihre Mutter. Alina zitterte, als sie die Wärme und den Schmerz spürte, die mit dieser Erinnerung einhergingen. Ihre Mutter, die sie stützte und gleichzeitig verlangte, sich zu fügen.
„Genug!“ Ihre Stimme schnitt durch die Stille, laut und voller Wut und Verzweiflung, und die Visionen zerbrachen wie Glas. Sie keuchte, holte tief Luft, während der Nebel sie wieder umgab.
Doch der Wald ließ nicht los. Das Summen war noch immer da, tiefer und eindringlicher. Es schien mit ihrer Haut zu verschmelzen, die feuchte Erde unter ihren Händen fühlte sich lebendig an, als würde sie pulsieren. Alina zog ihre Hände zurück, starrte auf die Erde, die an ihren Fingern klebte, und spürte eine seltsame Wärme, die durch ihre Gliedmaßen strömte.
Ein Geräusch ließ sie den Kopf heben. Es war leise, fast wie das Rascheln eines Stoffes, das sich in der Stille verlor. Ihre Augen durchsuchten die Ränder der Lichtung, doch sie konnte nichts erkennen. Nur der Nebel, der sich bewegte, als hätte er eine eigene Intention.
„Wer ist da?“ Ihre Stimme zitterte leicht, doch sie hielt ihr Kinn hoch, zwang sich, standhaft zu wirken.
Keine Antwort. Nur das Summen und die Stille, die alles zu verschlucken schien. Doch dann, am Rand ihres Blickfeldes, sah sie es: ein Schatten, kaum mehr als eine Andeutung, die durch den Nebel glitt. Ihr Herz raste, ihre Muskeln spannten sich an.
„Was auch immer du bist, zeig dich!“ rief sie, diesmal mit Trotz und einem Hauch von Angst, der ihre Worte schärfte.
Der Nebel antwortete nicht. Doch das Gefühl der Präsenz war stärker als zuvor, greifbar und fordernd. Alina spürte, wie der Wald sie umschloss, sie prüfte und gleichzeitig festhielt. Die kalte Luft schien ihre Haut zu streifen wie eine unsichtbare Hand.
Mit einem tiefen Atemzug zwang sie sich, aufzustehen. Ihre Knie zitterten, doch sie hielt sich aufrecht, ihre grauen Augen weiterhin auf den Nebel gerichtet. Sie wusste, dass sie hier nicht bleiben konnte, dass die Zeit gegen sie arbeitete. Und doch... Etwas hielt sie zurück. Vielleicht war es der Wald selbst, vielleicht die Ahnung, dass die Antworten, die sie suchte, genau hier lagen.
Ein Schatten bewegte sich erneut, diesmal näher. Alina wich instinktiv einen Schritt zurück, ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. Ihr Atem war flach, doch sie hielt ihre Haltung.
Der Wald schien stillzustehen, als würde er sie beobachten. Und Alina wusste, dass sie ihm nicht entkommen konnte, ohne etwas von sich selbst zurückzulassen.