Kapitel 3 — Zwischen Misstrauen und Anziehung
Liv
Die Höhle war still, bis auf das leise Knistern des Feuers, das die rauen Wände mit zuckenden Schatten bemalte. Liv saß auf dem improvisierten Lager aus Fellen und starrte auf den Eingang der Höhle, wo die Dunkelheit des Waldes wie eine undurchdringliche Wand lauerte. Elias war immer noch nicht zurückgekehrt. Die Stunden schienen sich endlos zu dehnen, und mit jeder Minute wuchs ihre Unruhe. Ihre Gedanken liefen im Kreis – Fragen, ungesagte Worte, Vorahnungen. Die Träume von der weißen Wölfin hatten etwas in ihr aufgerüttelt, etwas Altes und Unbekanntes, das sie nicht in Worte fassen konnte. Es war, als würde in ihr ein Ruf widerhallen, ein leises, hartnäckiges Pochen, das sie nicht ignorieren konnte.
Ihr Blick wanderte durch die Höhle und blieb an einem Regal aus groben Holzbrettern hängen, das an einer der Wände lehnte. Darauf lagen Gegenstände, die ihr vorher nicht aufgefallen waren – kleine Bündel getrockneter Kräuter, ein seltsam geformtes Messer und ein paar in Leder gebundene Bücher. Eine Welle der Neugier stieg in ihr auf, gemischt mit dem Drang, die Lücken in ihrem Wissen zu füllen, die Elias’ Verschwiegenheit hinterlassen hatte. Langsam stand sie auf, ignorierte das Ziehen in ihrer Hüfte, und näherte sich dem Regal. Der kühle Erdboden unter ihren Füßen machte sie auf seltsame Weise wachsam.
Ihre Finger glitten über die rauen Bucheinbände, während sie die Titel zu entziffern versuchte. Einige waren in einer Sprache geschrieben, die sie nicht verstand, doch einer der Einbände zeigte ein Symbol, das sich in ihre Gedanken brannte: ein grob gezeichneter Wolfskopf, umgeben von Kreisen, die wie Mondphasen angeordnet waren. Ein merkwürdiges Kribbeln breitete sich in ihren Handflächen aus, als sie das Buch berührte. Es war, als würde ein Hauch von Wärme durch das Leder strömen und sich in ihrer Brust ausbreiten. Etwas in ihrem Inneren zog sie zu diesem Buch, ein unbestimmtes Gefühl, dass es wichtig war – für sie.
Vorsichtig nahm sie es vom Regal und öffnete es. Die Seiten waren vergilbt, die Schrift kunstvoll, aber schwer zu entziffern. Einzelne Worte sprangen ihr ins Auge – „Verwandlung“, „Balance“, „Rudel“. Sie spürte, wie eine Verbindung zwischen den Begriffen und den Bildern ihrer Träume entstand. Der Wolfskopf auf dem Buchdeckel und die leuchtenden Augen der weißen Wölfin schienen miteinander verbunden zu sein, auch wenn sie die Bedeutung noch nicht ganz greifen konnte. Plötzlich durchfuhr sie ein Gedanke, klar und unerbittlich: Die Wölfin hatte sie nicht nur geführt – sie hatte sie gewarnt.
Ein leises Geräusch ließ sie zusammenzucken und das Buch hastig zurücklegen. Ihr Herz raste, doch als sie sich umdrehte, war niemand dort. Es war nur der Wind, der am Eingang der Höhle vorbeistrich, aber der Moment erinnerte sie daran, dass sie in Elias’ Welt ein Eindringling war, ein Gast, der keine Antworten erwarten konnte, wenn sie nicht bereit waren, gegeben zu werden.
Liv setzte sich zurück auf das Lager, doch die Unruhe hatte sich in ihr festgesetzt. Ihre Finger strichen über die improvisierte Bandage, und ihre Gedanken wanderten zurück zu Elias. Seine goldenen Augen – so intensiv, dass sie in der Dunkelheit leuchteten – verfolgten sie, ebenso wie die Art, wie er sie ansah, als könnte er bis in ihre tiefsten Gedanken blicken. Wer war dieser Mann wirklich? Warum wusste er so viel über sie? Und warum ließ sie sich von seiner verschlossenen Art gleichzeitig frustrieren und faszinieren?
Die Bilder ihrer Träume drängten sich erneut in ihr Bewusstsein: die weiße Wölfin, die sie mit einem Blick durchdrungen hatte, als wolle sie sagen, dass Liv die Antworten in sich selbst suchen müsse. „Finde mich.“ Die Worte hallten in ihr wider, so real, dass sie den Geschmack von Moos und Erde auf der Zunge spürte. Was bedeutete das alles?
Der Klang von Schritten riss sie aus ihren Gedanken. Sie richtete sich auf, das Herz plötzlich schwer in ihrer Brust. Elias trat in die Höhle, eine dunkle Silhouette gegen das trügerische Leuchten des Feuers. Er trug eine Ledertasche, deren Inhalt er vorsichtig nahe dem Feuer ablegte. Sein Blick wanderte zu ihr, und für einen Moment verharrte er, als ob er ihre Gedanken lesen könnte.
„Du solltest dich noch ausruhen,“ sagte er schließlich, seine Stimme ruhig, aber mit einem Hauch von Strenge. Es war kein Befehl, doch irgendetwas in seinem Ton ließ keinen Raum für Diskussionen.
„Wie lange soll ich das noch tun?“ entgegnete Liv, ihre Stimme schärfer, als sie beabsichtigt hatte. „Ich kann doch nicht ewig hier sitzen und warten, dass du mir irgendwann Antworten gibst.“
Elias’ Augen verengten sich leicht, doch er sagte nichts. Stattdessen öffnete er die Tasche und zog mehrere kleine Tücher und ein paar Kräuterbündel hervor. Seine Bewegungen waren ruhig, fast mechanisch, aber Liv spürte die Spannung in seiner Haltung. Sie hatte ihn getroffen, ob er es zugeben wollte oder nicht.
„Was genau weißt du über mich, Elias?“ fuhr sie fort. Ihre Stimme war leiser geworden, aber der Nachdruck in ihren Worten blieb. „Du hast meinen Namen gesagt. Du hast mich gerettet. Aber du erzählst mir nichts. Warum?“
Elias legte die Kräuter zur Seite und sah sie an. Sein Blick war unergründlich, wie ein stiller See, der etwas verbarg, das niemand sehen sollte. „Manche Dinge lassen sich nur verstehen, wenn du bereit bist, sie anzunehmen,“ sagte er schließlich. „Alles zu wissen, bevor du soweit bist, könnte gefährlich sein.“
Liv lachte trocken, die Frustration kochte in ihr hoch. „Gefährlich? Ich bin mitten in einem Wald voller Dinge, die mich umbringen könnten, und du redest von gefährlich?“
„Ich rede nicht von dem Wald, Liv,“ erwiderte er, und in seiner Stimme schwang eine Tiefe mit, die sie für einen Moment verstummen ließ. „Ich rede von dir.“
Die Worte trafen sie wie ein Schlag in die Magengrube. Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch nichts kam heraus. Stattdessen beobachtete sie ihn, wie er zum Regal trat und eines der Bücher herausholte. Es war dasselbe Buch mit dem Wolfssymbol, das sie vorhin betrachtet hatte. Er hielt es in der Hand, als wiege es mehr als nur Papier und Leder.
„Du spürst es, nicht wahr?“ fragte er, und seine Stimme war leiser geworden. „Etwas in dir verändert sich. Der Wald fühlt es, die Tiere fühlen es. Und du kannst es nicht ignorieren.“
Liv schluckte schwer, ihre Kehle war plötzlich trocken. „Was meinst du damit?“ flüsterte sie.
Elias trat näher, das Buch noch immer in der Hand. Er hielt es ihr hin, und für einen Moment zögerte sie, bevor sie es nahm. Ihre Finger berührten dabei kurz seine, und das Kribbeln von vorhin kehrte zurück, stärker und intensiver. Er wich nicht zurück, sondern hielt ihren Blick fest.
„Die Antworten, die du suchst, werden nicht von mir kommen,“ sagte er. „Aber vielleicht findest du sie hier.“ Damit ließ er das Buch los und trat einen Schritt zurück, als wolle er ihr Raum geben. „Und vielleicht verstehst du dann, warum ich schweige.“
Liv ließ ihre Augen über die Seiten des Buches gleiten, doch die Worte schienen sich vor ihr zu verschließen. Sie fühlte sich, als würde sie in einen Abgrund blicken, von dem sie noch nicht bereit war, zu springen. Schließlich schloss sie das Buch und legte es behutsam auf das Lager neben sich.
„Du machst es einem nicht leicht, dir zu vertrauen,“ sagte sie schließlich, ihre Stimme leiser geworden. Es war keine Anklage, sondern eine Feststellung.
Elias nickte langsam, beinahe widerwillig. „Vertrauen wird nicht erzwungen, Liv. Es wächst – oder es tut es nicht.“
Die Spannung zwischen ihnen war greifbar, dicht wie der Nebel, der draußen um die Höhle kroch. Liv wusste, dass sie keine weiteren Antworten von ihm erwarten konnte – nicht heute. Doch etwas in seinem Blick, in der Art, wie er sie ansah, sagte ihr, dass er mehr wusste, als er preisgab. Und dass er sie dennoch schützte, auf eine Art, die sie nicht begreifen konnte.
Er drehte sich schließlich um und begann, die Kräuter und Tücher zu sortieren. Liv lehnte sich zurück und ließ den Moment sacken. Ihre Gedanken waren schwer, doch unter der Last regte sich etwas anderes – eine Ahnung von Stärke, von etwas, das in ihr wuchs.
Die Nacht zog heran, und mit ihr kam die Stille. Doch Liv wusste, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm war. Etwas wartete dort draußen, verborgen in den Schatten des Waldes. Und sie war bereit, Antworten zu suchen – egal, was sie dabei finden würde.