Kapitel 2 — Der Mann mit den goldenen Augen
Liv
Das warme Licht des Feuers tanzte über die unebenen Wände der Höhle, während Liv langsam ihre Umgebung in sich aufnahm. Der Geruch von Holzrauch und getrockneten Kräutern füllte die Luft, vermischt mit einem Hauch von feuchter Erde, der an die tiefen Schichten des Waldes erinnerte. Sie war noch immer erschöpft, doch die dumpfe Benommenheit wich nun einer drängenden Neugier. Ihr Körper fühlte sich schwer an, aber die Wunde an ihrer Hüfte war sorgfältig verbunden, und die Schmerzen waren erträglicher als zuvor. Sie fuhr mit den Fingern über die grobe Textur der improvisierten Bandage und spürte ein Ziehen, das sie daran erinnerte, wie fragil sie gerade war.
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie ihn sah. Elias saß in der Nähe des Eingangs und starrte hinaus in den dämmrigen Wald, sein kantiges Profil von den tanzenden Schatten des Feuers beleuchtet. Etwas an ihm strahlte eine unbezwingbare Wachsamkeit aus – wie ein Raubtier, das auf der Lauer lag. Sein Blick, auf einen Punkt im Nebel des Waldes fixiert, war abwesend, als ob die dichten Bäume und die Dunkelheit ihm Antworten zuflüsterten, die Liv verborgen blieben. Ein eisiges Frösteln kroch ihren Rücken hinab, als sie sich an die goldenen Augen erinnerte, die sie in ihrer dunkelsten Stunde durch die Schatten des Waldes beobachtet hatten. Dieselben Augen, die jetzt ihm gehörten.
Sie rutschte unbehaglich auf ihrem Platz, das weiche Fell unter ihr kratzte leicht an ihrer Haut. Ein leises Räuspern entwich ihr, mehr aus Reflex als aus Absicht. Seine Reaktion war augenblicklich. Sein Kopf drehte sich zu ihr, und seine unergründlichen goldenen Augen fixierten sie mit einer Intensität, die sie für einen Moment den Atem anhalten ließ.
„Du bist wach“, sagte er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, doch sie spürte eine leise Sorge darin, die sein sonst verschlossenes Auftreten nicht vollständig verbergen konnte. Elias erhob sich und bewegte sich mit einer beinahe unnatürlichen Lautlosigkeit auf sie zu. Sein Schatten, langgezogen vom Licht des Feuers, schien wie ein Teil der Dunkelheit selbst zu sein, die ihn umgab. Als er vor ihr kniete, betrachtete er ihr Gesicht, seine Haltung angespannt, als suche er nach einem Zeichen von Schmerz oder Gefahr.
„Wie fühlst du dich?“ Seine Stimme war ruhig, aber in seinem Ton schwang eine Schwere mit, ein Widerhall von etwas, das sie nicht entschlüsseln konnte.
„Besser, glaube ich“, antwortete sie, ihre Stimme noch immer brüchig. Ihre Augen wanderten zu seinen Händen, die ein kleines Gefäß aus dunklem Ton hielten, aus dem ein kräuterartiger Duft aufstieg, begleitet von einem Hauch von Bitterkeit. „Was ist das?“
„Ein Heiltrank. Kräuter aus dem Wald“, erklärte er knapp, reichte es ihr aber mit einem kurzen Zögern. „Trink es. Es wird helfen.“
Liv nahm das Gefäß vorsichtig entgegen und betrachtete die verdunkelte Flüssigkeit darin. Der Ton seiner Stimme hatte etwas Befehlsähnliches, doch seltsamerweise weckte es in ihr kein Misstrauen. Stattdessen verspürte sie eine seltsame, unbewusste Gewissheit, dass er wusste, was er tat – dass er sie tatsächlich gerettet hatte. Sie nahm einen kleinen Schluck, und der bittere Geschmack brannte auf ihrer Zunge und hinterließ ein unangenehmes Kribbeln in ihrem Hals. Ein Gefühl, das sie beunruhigte, als ob die Wahrheit, die hinter all dem lag, ebenso schwer zu schlucken sein könnte.
„Was ist das hier für ein Ort?“ fragte sie schließlich, als sie das Gefäß senkte. Ihre Stimme war leise, fast ein Flüstern, das in der Stille der Höhle verlorenging. „Und warum war ich allein im Wald…?“ Sie zögerte, bevor sie ihn direkt ansah. „Was ist da draußen gewesen?“
Elias’ Blick verhärtete sich, und für einen Moment schien er tief in Gedanken versunken. Seine Kiefermuskeln spannten sich an, und seine goldenen Augen huschten kurz zum Höhleneingang, als ob er unsichtbare Gefahren im Dunkel des Waldes zu sehen glaubte. Doch dann setzte er sich zurück auf einen flachen Stein in der Nähe des Feuers, seine Haltung wirkte plötzlich schwerer, als ob jede Bewegung ihn mehr kostete, als er zeigen wollte.
„Das hier ist eine Höhle – ein sicherer Ort abseits des Waldes. Mehr musst du im Moment nicht wissen“, sagte er schließlich. Seine Stimme war ruhig, aber auch schwer von Zurückhaltung, als würde er jedes Wort sorgfältig abwägen.
Livs Augenbrauen zogen sich zusammen. Ihre Frustration brodelte in ihr auf, wie eine Welle, die sich gegen den Deich der Erschöpfung drängte. „Mehr muss ich nicht wissen? Ich habe keine Ahnung, wer ich bin, wo ich bin oder warum ich blute! Und du erwartest, dass ich mich mit so einer Antwort zufriedengebe?“ Ihre Stimme hatte sich erhoben, schärfer geworden, als sie es beabsichtigt hatte, doch ihre Worte waren ein Ventil für die Verwirrung, die in ihr tobte.
Elias’ Blick kehrte zu ihr zurück, und für einen Moment glaubte sie, eine Spur von Bedauern in seinen Augen zu erkennen. „Es war nicht meine Absicht, dich zu verunsichern“, sagte er schließlich. „Aber es gibt Dinge, die du im Moment noch nicht verstehen kannst.“
„Dann erklär es mir!“ Ihre Stimme wurde lauter, durchzogen von einer Mischung aus Entschlossenheit und Verzweiflung. „Ich weiß nicht einmal, ob ich dir trauen kann.“
Elias hielt ihrem Blick stand, und in der Tiefe seiner Augen flackerte etwas, das sie nur schwer einordnen konnte – ein Widerhall von Zerrissenheit, vielleicht sogar Schuld. Dann sprach er, seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern: „Vertrauen muss verdient werden, Liv.“
Ihr Atem stockte, und ihr Name – das erste Mal aus seinem Mund – hallte in ihrem Kopf wider. Wie konnte er sie kennen? Für einen endlosen Moment starrte sie ihn an, während ihr Inneres sich mit Fragen und einer unbehaglichen Vorahnung füllte. Sie wollte ihn fragen, doch die Schwere seiner Worte und der unausgesprochene Schatten, der sich zwischen ihnen ausbreitete, hielten sie zurück.
„Aber ich habe dich gerettet. Das sollte fürs Erste genügen“, fügte er schließlich hinzu, seine Stimme nun fester, entschlossener. Die Worte zogen eine unsichtbare Grenze zwischen ihnen, eine Mauer aus Andeutungen und Geheimnissen, die Livs Wut langsam in Frustration und Erschöpfung verwandelte.
Sie lehnte sich zurück, ihren Blick in die Flammen des Feuers gesenkt. Die Stille, die folgte, war schwer und unangenehm, aber auch notwendig. Nach einer Weile brach Elias die Stille, seine Stimme klang leise, fast weich: „Du solltest dich ausruhen. Deine Wunde wird Zeit brauchen, um zu heilen.“ Er stand auf und zog ein Fell aus einer Ecke der Höhle hervor, bevor er sich zum Ausgang wandte.
„Warte!“ rief Liv, bevor sie darüber nachdenken konnte. Er hielt inne und drehte sich halb zu ihr um, sein Gesicht im Halbschatten verborgen.
„Du kannst mich Elias nennen“, sagte er schlicht.
Liv schluckte schwer und rang um Worte. „Elias… warum hast du mich gerettet?“
Er zögerte, und der Ausdruck in seinen Augen wurde unergründlich. „Manchmal flüstert der Wald einem zu, was getan werden muss“, sagte er schließlich, wobei seine Stimme wie ein ferner, dunkler Strom klang. Mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken verschwand er in die Dunkelheit des Höhleneingangs.
Allein im sanften Schein des Feuers spürte Liv eine seltsame Leere. Ihre Gedanken rasten, und Fragen kreisten wie unaufhörliche Schatten durch ihren Kopf. Sie konnte kaum glauben, wie wenig sie über Elias wusste – über den Mann mit den goldenen Augen, der sie beobachtete, als ob er weit mehr über sie wüsste, als er preisgab.
Schließlich legte sie sich zurück, den Kopf auf einen improvisierten Kissenersatz aus Stoff und Fell. Die Wärme des Feuers und die Erschöpfung ihres Körpers zogen sie in den Schlaf, ihre Gedanken verstummten allmählich.
Dieses Mal waren ihre Träume weniger klar, verschwommener. Doch wieder war die weiße Wölfin da. Ihre Augen, so hell und klar, blickten direkt in Livs Herz. Keine Worte, keine Gesten, nur dieses durchdringende Gefühl: „Du bist mehr, als du glaubst.“
Liv schreckte aus dem Schlaf hoch. Ihr Herz raste, doch die Höhle war still. Das einzige Geräusch war das leise Knistern des Feuers. Sie drehte sich um und sah, dass Elias nicht zurückgekehrt war. Und doch, irgendwo tief in ihrem Inneren, wusste sie, dass er in der Nähe war.
Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Der Wald rief sie, und sie konnte nicht leugnen, dass irgendetwas in ihrer Seele auf diesen Ruf antwortete. Was bedeuteten die Träume? Und wer – oder was – war Elias wirklich?
Die Antworten lagen irgendwo da draußen, verborgen im Schatten dieses unheimlichen Waldes. Und Liv wusste, dass sie bald den Mut finden musste, sie zu suchen.