reader.chapter — Zerbrochene Spiegel
Sophia Falk
Der Richter sprach das Urteil mit einer Stimme, die ruhig und unbeteiligt klang, als wäre Sophias Leben nur eine von vielen Akten, die er an diesem Tag schließen musste. „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Frau Sophia Falk wird der Veruntreuung in der Höhe von 3,2 Millionen Euro für schuldig befunden.“ Der letzte Satz prallte wie ein Hammerschlag in ihrem Kopf wider, so laut, dass er jedes andere Geräusch übertönte.
Sophia saß regungslos auf dem harten Holzstuhl des Angeklagten. Ihre Hände, die sie krampfhaft im Schoß verschränkt hatte, wurden feucht, ihre Finger gruben sich in die Haut. Der Kragen ihrer Bluse schien plötzlich zu eng, die Luft stickig und schwer. Doch sie rührte sich nicht. Sie wusste, dass jede Regung von den gierigen Augen der Presse als Schwäche interpretiert werden würde. Die Kameras klickten im Takt, das grelle Licht ihrer Blitze blendete sie und ließ sie ungeschützt wirken – ein Raubtier im Scheinwerferlicht.
Die Stimme des Richters wurde zu einem monotonen Brummen, als würde er eine Litanei heruntersagen, die keinen Raum für menschliches Mitgefühl ließ. Die Worte „zwei Jahre auf Bewährung“, „Rückzahlung“ und „Verlust der beruflichen Zulassung“ flogen wie Schwerter durch die Luft. Sie nagten an ihrem Stolz, Stück für Stück, bis nur noch Scham und Leere übrigblieben.
Die Reihen hinter ihr waren bis auf den letzten Platz gefüllt. Sie wagte keinen Blick dorthin. Sie wusste, wer dort saß: Journalisten, die begierig auf eine Schlagzeile warteten, alte Kollegen mit versteinerten Mienen, die sie einst um Rat gefragt hatten, und sogar Konkurrenten, deren Genugtuung beinahe greifbar war. Schritte und das leise Kratzen von Kugelschreibern zogen durch den Saal. Die Welt, die sie sich so mühsam aufgebaut hatte, fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen, während Sophia aufstehen musste.
Der Gerichtssaal schien sich zu neigen, die Wände drängten näher, die Luft war schwer, fast erstickend. Ihre Knie zitterten, obwohl sie sich zwang, den Kopf hochzuhalten. Ihre Anwältin, eine zierliche Frau mit einer schmalen Brille, berührte flüchtig ihren Arm. „Sophia...“ begann sie, doch Sophia hörte nicht zu. Die Berührung fühlte sich kalt an, fast fremd.
Als sie den Saal verließ, wartete bereits die Meute. Kameras wurden ihr ins Gesicht gedrückt, Mikrofone reckten sich wie hungrige Raubtiere in ihre Richtung. Eine Frau mit scharf geschnittenem Bob rief etwas, während ein Mann mit dröhnender Stimme „Frau Falk, warum schweigen Sie?“ schrie. Die Worte prasselten auf sie ein, wie ein Hagelsturm, begleitet von den grellen Blitzen der Kameras.
Sophia kämpfte darum, ihre Fassung zu bewahren. Ihr Kopf war hoch erhoben, doch ihre Schultern waren steif, jeder Atemzug fiel schwer. Gerade als sie glaubte, die Kontrolle zu verlieren, sah sie Clara am Ende des Flurs. Ihre beste Freundin war eine lebendige Insel in diesem Meer aus Chaos.
Claras kleine Hände umklammerten ihre Umhängetasche so fest, dass die Knöchel weiß wurden. Ihre braunen Augen suchten nervös nach Sophia, und als sie sie endlich sah, lief sie ihr entgegen. „Wir gehen“, sagte sie leise, aber bestimmt. Sophia nickte kaum merklich, ihre Beine fühlten sich wie Blei an.
Die Fahrt hinaus aus Frankfurt war still. Der Regen trommelte gegen die Fensterscheiben, während die Skyline der Stadt hinter ihnen verschwand. Sophia lehnte ihren Kopf gegen das kühle Glas und schloss die Augen. Die Bilder des Prozesses spielten sich immer wieder in ihrem Kopf ab: die scheinbar unwiderlegbaren Beweise, die Transaktionen, die E-Mails, die angeblich von ihr stammten. Sie fühlte sich wie in einem Netz gefangen, das so fein gesponnen war, dass sie keinen Ausweg fand.
„Sophia, du hast seit Tagen nichts Richtiges gegessen“, sagte Clara schließlich und zog einen Müsliriegel aus ihrer Tasche. Ihre Stimme zitterte leicht, doch sie versuchte, Stärke zu zeigen. „Du kannst so nicht weitermachen.“
Sophia öffnete die Augen, sah den Müsliriegel, aber rührte ihn nicht an. Ihr Magen war wie zugeschnürt, nichts konnte diese Knoten lösen. „Es ist zu spät, Clara“, sagte sie schließlich. Ihre Stimme war heiser, jedes Wort schmerzte. „Ich bin erledigt. Mein Ruf, meine Karriere, alles... weg.“
Clara schüttelte den Kopf, ihre Finger trommelten nervös auf das Lenkrad. „So leicht gebe ich dich nicht auf, Sophia. Irgendetwas stimmt hier nicht, und das weißt du genauso gut wie ich.“ Ihre Worte waren ein Anker, der Sophia ins Hier und Jetzt zurückholen sollte, doch sie klangen wie aus der Ferne.
***
Später an diesem Abend saß sie allein in ihrer Wohnung. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, das Licht einzuschalten. Die Straßenlaterne warf kaltes, flackerndes Licht durch die Jalousien und beleuchtete den aufgeschlagenen Aktenordner auf dem Küchentisch. Die Dokumente waren sorgfältig geordnet – Transaktionsberichte, E-Mails, Verträge –, doch sie fühlten sich wie gespenstische Relikte an. Sie hatte sie unzählige Male durchgesehen, jedes Detail überprüft, doch alle Spuren führten ins Nichts.
Ihre graugrünen Augen ruhten auf einem Foto in ihrer Hand. Es zeigte sie selbst, vor einigen Jahren, bei einem Bankett ihrer Investmentfirma. Sie trug ein elegantes schwarzes Kleid, ihr Haar war zu einem strengen Knoten gebunden. Neben ihr stand Leonhard von Hagen, ein Glas Champagner lässig in der Hand, sein Anzug makellos. Er hatte gelächelt – ein kühles, kontrolliertes Lächeln, das seine Augen nie ganz erreichte.
Leonhard. Sein Name hallte in ihrem Kopf wider. Der Gedanke an ihn rief eine Welle aus Zorn und Verzweiflung hervor. Sie erinnerte sich an ihre letzte Begegnung mit ihm, wenige Wochen bevor der Albtraum begann. Er hatte ihr ein Angebot gemacht, eines, das er als „einmalige Gelegenheit“ bezeichnet hatte, doch sie hatte es abgelehnt.
„Sie machen einen Fehler, Sophia“, hatte er gesagt, sein Ton ruhig, doch eine gefährliche Schärfe lag darin. „In dieser Welt gewinnt man nicht durch Prinzipien. Sie gewinnen durch Kontrolle.“
Sophia hatte ihn mit funkelnden Augen angesehen, wusste aber, dass er recht hatte. „Dann ist es eine Welt, in der ich nicht gewinnen will“, hatte sie entgegnet, bevor sie das Treffen abrupt beendet hatte.
Nun fragte sie sich, ob sie damit ein Spiel ausgelöst hatte, das sie niemals hätte spielen können. Die Perfektion der Beweise gegen sie – sie war zu perfekt, um wahr zu sein.
Der Klang ihres Handys durchbrach die Stille. Sie blinzelte und griff nach dem Gerät. Eine unbekannte Nummer erschien auf dem Bildschirm. Für einen Moment zögerte sie, ihre Finger zitterten, bevor sie den Anruf entgegennahm.
„Falk“, sagte sie, ihre Stimme schärfer, als sie beabsichtigt hatte.
Ein leises Atmen war zu hören, bevor eine tiefe, glatte Stimme die Stille durchbrach. „Die Wahrheit liegt im Schatten, nicht im Licht.“
Sophia richtete sich auf, ihre Muskeln plötzlich angespannt. „Wer ist da?“
Ein kurzes, leises Lachen, dann das Klicken, als die Verbindung getrennt wurde. Sophia starrte auf das Handy in ihrer Hand, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Die Worte hallten in ihrem Kopf wider, wie ein Echo in einem leeren Raum.
Die Wahrheit liegt im Schatten, nicht im Licht.
Sie wusste nicht, was diese Worte bedeuteten. Doch tief in ihr keimte etwas – eine Mischung aus Zorn, Entschlossenheit und einem Funken Hoffnung, der sich langsam, aber unaufhaltsam ausbreitete.
Sophia Falk war noch lange nicht bereit, aufzugeben.