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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Schatten der Vergangenheit


Hanna

Hanna lenkte den Wagen langsam auf die schmale, von knorrigen Bäumen gesäumte Zufahrtsstraße, die sich wie ein dunkler Tunnel anfühlte. Die kühle Luft des Herbstmorgens drang durch die winzigen Ritzen ihres Fensters und ließ sie frösteln. Am Ende des Weges ragte das alte Anwesen ihrer Familie auf, halb verborgen hinter den Schatten der Vergangenheit und dem dichten Gewirr der Äste. Es war ein Ort, der Geschichten flüsterte, die sie fürchtete, aber nicht länger ignorieren konnte.

Seit Tagen hatte sie über den nächsten Schritt nachgedacht, geplagt von den Fragen, die Helenas Tagebuch aufgeworfen hatte, und der drängenden Notwendigkeit, Antworten zu finden. Irgendetwas zog sie hierher, ein unbestimmtes Gefühl, das ihr sagte, dass in diesem Haus etwas verborgen lag – etwas, das sie der Wahrheit näherbringen könnte. Ihre Mutter hatte Geheimnisse gehabt, die sich wie ein Schatten über Hannas Leben gelegt hatten. Heute war der Tag, an dem sie diese Schatten zu lüften versuchte.

Als sie den Wagen zum Stehen brachte, blieb sie noch einen Moment sitzen und umklammerte das Lenkrad, während ihr Blick über die verwitterte Fassade des Hauses glitt. Die Fenster, staubbedeckt und dunkel wie blinde Augen, starrten sie an. Der Kies unter den Reifen knirschte zuletzt wie ein Echo in der bedrückenden Einsamkeit. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug, doch sie griff nach dem Amulett – Helenas Amulett – und ließ ihre Finger über die glatte Oberfläche gleiten. Der vertraute Kontakt gab ihr die Kraft, die sie brauchte, um die Tür zu öffnen und auszusteigen.

Der Wind trug den Geruch von feuchtem Laub und verrottendem Holz mit sich, während sie das verrostete Tor öffnete, das protestierend quietschte, als hätte es Jahrzehnte geschlafen. Ihre Stiefel knirschten über den Kiesweg, während sie sich dem Eingang näherte. Sie schob die schwere Holztür auf, deren Scharniere ein klagendes Geräusch von sich gaben, und trat ein.

Im Inneren umfing sie kalte, abgestandene Luft, die den Geschmack von Staub und alter Erde in ihrem Mund hinterließ. Die Möbel waren unter weißen Tüchern verborgen, wie verhüllte Erinnerungen, und die Stille war fast greifbar. Eine seltsame Mischung aus Beklemmung und Vertrautheit überkam sie, als sie die Räume durchquerte. Hier hatte sie als Kind gespielt, hatte sie mit ihrer Mutter gelacht – und doch hatte dieser Ort immer etwas Geheimnisvolles gehabt, das sie damals noch nicht benennen konnte.

Hanna zog ihre Taschenlampe hervor, deren kaltes Licht über die verblichenen Tapeten und die Ecken der Möbel huschte. Sie wusste nicht genau, wonach sie suchte, doch etwas in ihr – eine Intuition, ein unbestimmtes Ziehen – führte sie. Die knarrenden Dielen unter ihren Füßen schienen ihre Schritte zu verraten. Als sie die Treppe hinaufstieg, fühlte sie die Kälte des Geländers unter ihren Fingern und lauschte. Aber da war nichts – nur die allgegenwärtige Stille, die sich wie ein Mantel um sie legte.

Oben angekommen, erstreckte sich ein langer Korridor vor ihr, gesäumt von Türen, die in Räume führten, die längst von der Zeit verschluckt worden waren. Doch am Ende des Flurs sah sie eine Tür, die sich von den anderen unterschied. Das dunkle Holz wirkte fast unberührt, und das Schloss glänzte wie frisch poliert. Ein Schauer lief über ihren Rücken, aber sie zwang sich, weiterzugehen.

Als sie näher trat, zog sie das Amulett aus ihrer Tasche. Es lag schwer in ihrer Hand, als hätte es genau auf diesen Moment gewartet. Zögernd hielt sie es gegen das Schloss. Mit einem leisen Klicken, das wie ein Echo in ihrem Kopf widerhallte, gab die Tür nach und schwang langsam auf. Das Arbeitszimmer dahinter war überraschend gut erhalten, als hätte die Zeit es verschont.

Die Luft hier war anders – ein Hauch von Papier, alter Tinte und Jasmin, Helenas Duft, den sie so gut kannte. Hanna trat ein und ließ ihren Blick über die Wände wandern, die mit Regalen voller Bücher und sorgfältig arrangierten Bildern geschmückt waren. Es fühlte sich an, als würde sie in Helenas Gedanken eintauchen, als wäre dieser Raum ein Puzzle, das darauf wartete, entschlüsselt zu werden.

Mit zittrigen Fingern blätterte sie durch einen Stapel Papiere auf dem Schreibtisch. Die Handschrift war elegant und geschwungen, unverkennbar die ihrer Mutter. Zwischen den Seiten entdeckte sie alte Fotos – Splitter einer Vergangenheit, die sie nur bruchstückhaft kannte. Auf einem der Bilder war eine Gruppe von Menschen zu sehen, die silberne Masken trugen, jede einzigartig gestaltet. Eine Figur stach besonders hervor: ein Mann mit einer Maske, in deren Mitte ein roter Edelstein funkelte. Hannas Atem stockte. Wer war er? Und was hatte er mit ihrer Mutter zu tun?

Als sie eine Schublade öffnete, die zunächst widerstand, bevor sie schließlich nachgab, fand sie ein versiegeltes Dokument. Das fremdartige Symbol auf dem Siegel schien in ihrem Gedächtnis eine Saite anzuschlagen, die sie jedoch nicht zuordnen konnte. Sie hielt das Dokument in den Händen und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Es war, als würde sie etwas Verbotenes berühren, doch sie wusste, dass sie es mitnehmen musste.

Plötzlich schien der Raum kälter zu werden. Hanna fröstelte und hatte das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden. Sie hielt inne, lauschte, doch alles, was sie hören konnte, war ihr eigener Atem. Ihr Blick wanderte zu einem der Bilder an der Wand – ein Familienporträt mit einem jüngeren Helena. Für einen Moment glaubte sie, einen Schatten über das Bild huschen zu sehen. Sie blinzelte, und es war verschwunden.

Mit klopfendem Herzen steckte sie die gefundenen Dokumente ein und verließ das Arbeitszimmer. Der Flur war still, doch sie spürte, dass die Schatten in den Räumen mit ihr gingen. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, und eilte die Treppe hinunter, ihre Schritte klangen wie Trommelschläge in der bedrückenden Stille.

Erst als sie die Tür ihres Wagens schloss, fühlte sie sich sicher. Ihre Finger suchten instinktiv das Amulett, dessen Berührung sie beruhigte. Während sie den Motor startete und den Wagen wendete, arbeitete ihr Geist fieberhaft. Das Bild mit den Masken, das mysteriöse Dokument, die verborgene Tür – es fühlte sich an, als würde sich ein Puzzle zusammensetzen, das sie bisher nicht einmal richtig sehen konnte.

Doch sie wusste, dass dies nur der Anfang war. Das Anwesen hatte Geheimnisse offenbart, die sie nicht ignorieren konnte. Sie war entschlossener denn je, die Wahrheit über ihre Mutter, ihre Familie und die Stille zu finden – koste es, was es wolle.