App herunterladen

Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Verlorene Stimmen


Hanna

Das Morgenlicht schlich sich nur mühsam durch die verschmutzten Fenster des Lagerhauses, das seit Wochen als ihr provisorisches Hauptquartier diente. Die Lichtstrahlen schienen durch den dünnen, schwebenden Schleier aus Staub zu kämpfen, der in der stillstehenden Luft tanzte. Die Welt außerhalb war in trübes Grau getaucht, und die gedämpften Geräusche der Stadt drangen kaum bis hierher. Es war, als wäre das Gebäude von der Außenwelt abgeschnitten, ein Ort voller Isolation – und lauernder Gefahr.

Rahul saß vor ihrer beeindruckenden Anordnung von Monitoren, das flackernde Licht der Bildschirme reflektierte sich in ihren müden Augen. Ihre Finger flogen über die Tastatur, jeder Anschlag schien eine verzweifelte Suche nach irgendeinem Anhaltspunkt zu sein. Neben ihr lagen zerknüllte Notizzettel, Beweise für lange Stunden unermüdlicher Arbeit. Raphael stand einige Meter entfernt, das Handy fest an sein Ohr gepresst, seine Stimme gedämpft und angespannt. Er hatte sich bereits seit dem frühen Morgen bemüht, ihre Informanten zu erreichen, doch seine Frustration machte sich in seiner Körpersprache deutlich bemerkbar: seine Schultern waren steif, die freie Hand ballte sich immer wieder zur Faust.

Hanna beobachtete ihre beiden Freunde nur flüchtig, bevor sie sich wieder ihren eigenen Aufgaben zuwandte. Der Stapel ausgedruckter Datensätze vor ihr schien niemals kleiner zu werden, egal wie intensiv sie ihn durchforstete. Jede Seite schien eine neue Sackgasse zu offenbaren, und der Druck in ihrer Brust wuchs mit jeder Minute. Die Ereignisse der letzten Nacht hatten in ihrem Geist eine Endlosschleife der Unruhe hinterlassen: die rätselhafte E-Mail ohne Absender, das mulmige Gefühl, beobachtet zu werden, und die Worte in ihrem Kopf, die sich immer wieder wiederholten – "Die Stille kommt". Es war, als hätte die Dunkelheit selbst eine Stimme gefunden, um sie zu verfolgen.

„Ich komme bei niemandem durch“, hörte sie Raphael plötzlich sagen. Er legte das Handy langsam auf den Tisch, seine Finger blieben jedoch einen Moment lang darauf liegen, als könnte er das Gerät mit purem Willen zu einer Antwort zwingen. Schließlich fuhr er sich mit einer Hand durch sein dunkelbraunes Haar und atmete schwer aus. „Es ist, als wären sie alle vom Erdboden verschluckt.“

Rahul drehte sich auf ihrem Stuhl zu ihm um, ihre Augen waren von Müdigkeit gerötet, doch in ihrem Blick lag ein Hauch von Wut. „Unsere Plattform wurde infiltriert“, sagte sie, ihre Stimme kühl, doch mit einem scharfen Unterton. „Jemand hat nicht nur Daten gestohlen, sondern auch falsche Informationen eingestreut.“ Sie presste die Lippen zusammen und fügte hinzu, als würde sie mit sich selbst sprechen: „Das ist nicht nur ein Angriff. Sie versuchen, Misstrauen in unserem Netzwerk zu säen.“

Hanna spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Misstrauen. Das Wort blieb in ihrem Kopf hängen, wie ein ständiges Echo. „Wer immer das ist, er kennt unsere Methoden – vielleicht sogar unsere nächsten Schritte.“

Rahul nickte, ihre Finger strichen unruhig über die Kante des Schreibtischs. „Das ist nicht irgendein Hacker. Das ist präzise, durchdacht und geplant. Sie wollen uns nicht nur überwachen, sie wollen uns destabilisieren.“

Hanna wollte gerade etwas erwidern, als ihr Telefon vibrierte. Das Geräusch schnitt durch die angespannte Stille im Raum wie ein Messer. Ihr Puls beschleunigte sich, als sie das Gerät vom Tisch nahm. Eine unbekannte Nummer. Sie zögerte, der Gedanke an die E-Mail vom Vorabend geisterte durch ihren Kopf. Schließlich tippte sie vorsichtig auf „Annehmen“.

„Hanna Winter“, sagte sie kühl. Doch ihre Stimme verriet die wachsende Anspannung, die sich in ihrem Inneren aufbaute.

Die Antwort kam in Form einer verzerrten Stimme, metallisch und fremdartig, als käme sie aus einer anderen Welt. „Sie sollten aufhören zu suchen. Die Stille ist überall.“

Hanna erstarrte. „Wer sind Sie?“ fragte sie scharf, aber die Stimme ignorierte ihre Frage.

„Ein Freund, der Sie warnt“, fuhr die Stimme fort, jedes Wort schien sich in ihr Bewusstsein zu brennen. „Jemand in Ihrem Kreis ist nicht der, der er zu sein scheint. Vertrauen Sie niemandem.“

Bevor sie reagieren konnte, brach der Anruf ab, und die erdrückende Stille kehrte zurück. Sie hielt das Telefon noch immer in der Hand, starrte auf das dunkle Display, als könnte sie dadurch Antworten finden. Die Bedeutung der Worte hallte in ihrem Kopf wider, zusammen mit einem einzigen Gedanken: War es eine Lüge? Oder war es die Wahrheit?

Rahuls Stimme riss sie aus ihren Überlegungen. „Hanna?“ Sie hob den Blick und sah, wie Rahul und Raphael sie besorgt ansahen.

„Ich wurde gerade angerufen.“ Ihre Stimme war leise, doch fest. Sie erzählte ihnen von der verzerrten Stimme und der Warnung. Als sie geendet hatte, legte sich eine schwere, fast greifbare Stille über den Raum.

Raphael trat einen Schritt nach vorn, seine Hände zu Fäusten geballt. „Das muss ein Trick sein“, sagte er scharf, seine Stimme voller Spannung. „Sie versuchen, uns auseinanderzubringen. Misstrauen zu säen, ganz genau wie Rahul gesagt hat.“

„Aber was, wenn nicht?“ Rahuls Stimme war ruhig, doch in ihren Augen lag eine Besorgnis, die sie nicht verbergen konnte. „Was, wenn sie uns tatsächlich beobachten? Und was, wenn sie recht haben?“

Hanna schloss die Augen für einen Moment, atmete tief durch. Das Misstrauen kroch wie ein schleichender Nebel in ihre Gedanken, drohte sie zu überwältigen. Doch sie zwang sich, einen klaren Kopf zu bewahren. Sie öffnete die Augen wieder und sprach mit fester Stimme. „Es spielt keine Rolle, was sie erreichen wollen. Wir können es uns nicht leisten, paranoid zu werden, aber wir müssen wachsam sein. Ab jetzt keine Alleingänge mehr, keine ungesicherten Kommunikationswege. Wir bleiben fokussiert und arbeiten zusammen.“

Rahul nickte langsam, ihre Finger begannen bereits wieder über die Tastatur zu fliegen. „Ich werde die Systeme noch einmal durchkämmen. Wenn sie irgendwo einen Zugangspunkt haben, finde ich ihn.“

„Gut“, sagte Hanna. Sie wandte sich an Raphael. „Wir müssen wissen, was mit unseren Informanten passiert ist. Wenn sie schweigen, hat das einen Grund.“

Raphael trat ans Fenster, sein Blick wanderte über die graue Skyline. Er schien einen Moment lang in Gedanken versunken, bevor er schließlich nickte. „Ich werde es herausfinden“, sagte er leise. „Irgendwie.“

Hanna spürte das kühle Metalldes Amuletts in ihrer Handfläche. Sie hielt es fest, als könnte sie dadurch die notwendige Stärke finden, um mit der wachsenden Bedrohung umzugehen. Die Erinnerungen an ihre Mutter, an Lucien, an alles, was sie verloren hatte, flammten in ihr auf. Sie sammelte ihre Gedanken und sprach schließlich leise: „Wir dürfen nicht vergessen, warum wir das tun. Die Stille ist gefährlich, das wissen wir. Aber sie ist nicht unbesiegbar.“

Rahul drehte sich mit einem entschlossenen Blick zu ihr um. „Wenn sie uns isolieren wollen, dann müssen wir ihnen zeigen, dass wir immer einen Schritt voraus sind. Ich werde alles daran setzen, ihre Spuren zu verfolgen.“

„Und ich werde unsere Verbindungen überprüfen“, fügte Raphael hinzu. „Wir können nicht alle verlieren. Irgendjemand da draußen muss reden.“

Hanna sah ihre beiden Freunde an. Die Entschlossenheit in ihren Augen spiegelte sich in ihrem eigenen Inneren wider. „Dann sollten wir keine Zeit verlieren“, sagte sie schließlich. „Wir wissen nicht, wie viel Zeit wir haben, bevor sie wieder zuschlagen.“

Das Lagerhaus füllte sich bald wieder mit dem leisen Summen der Computer und dem gedämpften Klang von Raphaels Telefonaten. Doch trotz der Geschäftigkeit blieb die Bedrohung allgegenwärtig. Das Gefühl, beobachtet zu werden, lauerte in den Schatten und wartete nur darauf, zuzuschlagen. Hanna wusste, dass dies erst der Anfang war. Die Stille war überall – und sie mussten alles riskieren, um sie zu bekämpfen.