Kapitel 2 — Schatten der Vergangenheit
Sophia Keller
Die Fahrt zur Residenz Keller verlief ruhiger, als Sophia erwartet hatte. Hinter der Fensterscheibe des Taxis zog die nächtliche Skyline Münchens vorbei, eine Mischung aus kalten, glänzenden Fassaden und warm erleuchteten Altbauten. Der vertraute Anblick der Stadt bot ihr einen Hauch von Trost, doch unter der Oberfläche brodelte eine widerwillige Anspannung. Jeder Besuch bei ihren Eltern war ein Drahtseilakt zwischen äußerer Höflichkeit und innerlicher Distanz. Die Last unausgesprochener Wahrheiten und die Kluft zwischen ihren Welten wogen schwerer als jemals zuvor.
Der Fahrer hielt vor der Residenz, und Sophia stieg aus. Das imposante Stadthaus erhob sich vor ihr wie ein stummer Wächter, dessen Fassade eine makellose Perfektion zeigte, die die darin verborgenen Konflikte nur umso deutlicher machte. Der vertraute Geruch von frisch polierten Steinplatten mischte sich mit dem dezenten Aroma von Lavendel aus den umliegenden Gärten. Für einen flüchtigen Moment erinnerte sie sich an ihre Kindheit, als dieser Ort noch Sicherheit und Zugehörigkeit ausstrahlte, bevor er zu einem Symbol für die Leere ihrer familiären Beziehungen wurde.
Mit einem Seufzen zog sie den Mantel enger um ihre Schultern, drückte die Klingel und vergrub die Hände in den Taschen, während sie die kühle Abendluft zu vertreiben suchte. Die schweren Türen öffneten sich, und ihre Mutter erschien in der Eingangshalle – makellos wie immer. Das elegante blaue Kleid, die Perlenkette, die diskrete Hochsteckfrisur – alles an ihr wirkte wie ein sorgfältig inszeniertes Bild der Elitegesellschaft, die sie repräsentierte.
„Sophia, mein Schatz! Wie schön, dass du es einrichten konntest,“ sagte sie strahlend, doch die kühle Distanz in ihrem Blick entging Sophia nicht.
„Hallo, Mama,“ antwortete sie schlicht und trat in die vertraute Halle, deren hohe Decken und kunstvollen Leuchter im hellen Licht erstrahlten. Der Geruch von poliertem Holz und edlem Parfüm schien hier zum festen Inventar zu gehören. Alles war perfekt arrangiert, wie in einem Museum, in dem jede Bewegung vorsichtig abgestimmt sein musste.
Ihr Vater saß bereits im Salon, ein Glas Rotwein in der Hand, den Blick auf das prasselnde Feuer im Kamin gerichtet. Sein graues Haar war akkurat zurückgekämmt, und der tadellose Anzug verriet, dass er erst vor Kurzem aus einer wichtigen politischen Besprechung zurückgekehrt sein musste. Politik war nicht nur sein Beruf, sondern sein Lebenselixier, und die Residenz trug die Spuren dieses Anspruchs.
„Sophia,“ begrüßte er sie knapp, erhob sich jedoch, um ihr förmlich die Wange zu küssen. „Schön, dass du da bist.“
„Danke, Papa,“ sagte sie und setzte sich auf das makellos unberührte Sofa, dessen strenge Perfektion beinahe einschüchternd wirkte. Es fühlte sich an, als müsse sie aufpassen, keine Spuren zu hinterlassen.
Das Abendessen verlief so, wie Sophia es erwartet hatte – Gespräche über Politik, Wirtschaft und die neuesten gesellschaftlichen Entwicklungen, durchzogen von subtilen Spitzen, die ihre Eltern kaum zu bemerken schienen, die Sophia jedoch jedes Mal wie kleine Stiche trafen. Ihre Mutter pries eine Wohltätigkeitsveranstaltung, die sie organisiert hatte, während ihr Vater über die Bedeutung strategischer Netzwerke dozierte.
„Apropos Netzwerke,“ begann ihr Vater beiläufig, während er den Rotwein im Glas schwenkte, „die Gala im Grand Hotel Palais Aurelius nächste Woche wird spannend. Die Vittorios werden ebenfalls anwesend sein. Es wird gemunkelt, dass sie über eine lukrative Expansion in den Münchner Immobilienmarkt nachdenken.“
Sophia erstarrte innerlich, bemühte sich jedoch, ihre Fassade zu wahren. Der Name Vittorio schlug wie ein Echo in ihrem Bewusstsein wider, verstärkt durch die Erinnerung an den anonymen Brief, den sie in der Redaktion erhalten hatte. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, während ihr Blick auf den silbernen Rand ihres Tellers gerichtet blieb.
„Interessant,“ sagte sie schließlich, ihre Stimme bewusst neutral. „Es scheint, als hätten sie einen festen Platz in der Münchner Gesellschaft.“
Ihr Vater ließ ein leises, ironisches Lachen hören. „Das kann man wohl sagen. Sie sind ein Paradebeispiel dafür, wie man Tradition und Moderne vereint. Ein beeindruckendes Imperium, keine Frage.“
Sophia nickte langsam, doch ihre Gedanken drifteten ab. Die Villa Vittorio. Der Brief. Und jetzt die beiläufige Erwähnung dieses Namens hier, am Esstisch ihrer eigenen Familie. Es konnte kein Zufall sein.
Nach dem Dessert entschuldigte sie sich und verließ den Esstisch, mit der Ausrede, sie müsse kurz telefonieren. Stattdessen zog es sie in ihr altes Arbeitszimmer, das wie eine Zeitkapsel wirkte, unverändert und still. Der vertraute Duft von alten Büchern und Papier empfing sie, doch die Nostalgie wich schnell einem unbestimmten Unbehagen.
Mit geübtem Blick durchsuchte sie den Raum. Ihre Finger glitten über die Regale, zogen ein Buch nach dem anderen heraus, suchten nach Hinweisen, die hier verborgen sein könnten. Schließlich stieß sie auf eine kleine Schachtel, versteckt hinter einem Stapel alter Akten. Ein unerklärliches Ziehen in ihrer Brust warnte sie, doch sie öffnete die Schachtel mit zitternden Fingern.
Darin lag eine Sammlung alter Briefe und Fotografien. Ihre Augen blieben an einem Bild hängen, das sie herauszog. Darauf war ihr Vater zu sehen, noch ein junger Mann, flankiert von einer Gruppe elegant gekleideter Männer. Ein Gesicht stach besonders hervor – die markanten Züge und eisblauen Augen von Leonardo Vittorio waren unverkennbar. Selbst auf dem vergilbten Schwarz-Weiß-Foto schien dieser Mann eine Aura von Kontrolle und Macht auszustrahlen.
Ihr Atem stockte. Warum hatte sie dieses Bild nie zuvor gesehen? Warum hatte ihr Vater nie erwähnt, dass er Leonardo kannte? Sie griff nach einem der Briefe in der Schachtel, dessen klare Handschrift und förmlicher Tonfall sie innehalten ließen. Es war ein Schreiben, das von einer Zusammenarbeit zwischen den Kellers und den Vittorios sprach – eine politische Allianz, um gemeinsame Interessen zu fördern.
Sophias Kopf begann zu schwirren. Die Implikationen dieser Entdeckung waren gewaltig. Hatte ihr Vater in irgendeiner Weise von den Machenschaften der Vittorios profitiert? Und wenn ja, wie tief reichte diese Verbindung? Der Knoten in ihrem Magen zog sich enger, während ihr Geist fieberhaft die Konsequenzen abwog.
Ein Geräusch aus dem Flur ließ sie erstarren. Hastig legte sie die Briefe zurück, schloss die Schachtel und stellte sie an ihren Platz – gerade rechtzeitig, als ihre Mutter hereinkam.
„Alles in Ordnung, mein Schatz?“ fragte sie mit einem Lächeln, das höflich wirkte, doch die prüfenden Augen ließen keinen Zweifel daran, dass sie etwas vermutete.
„Ja, Mama,“ antwortete Sophia und zwang sich zu einem entspannten Lächeln. „Ich wollte nur ein paar alte Erinnerungen durchsehen.“
„Wir vermissen dich im Salon,“ sagte ihre Mutter mit einem Hauch von Vorwurf. „Dein Vater möchte dir noch etwas zeigen.“
„Ich komme gleich,“ murmelte Sophia und wartete, bis ihre Mutter den Raum verlassen hatte. Erst dann wagte sie es, tief durchzuatmen. Ihr Herz pochte heftig, und sie fühlte sich wie eine Eindringling in der eigenen Vergangenheit.
Als sie das Haus später verließ, war ihr Entschluss gefasst. Sie musste auf die Gala im Grand Hotel Palais Aurelius – egal, was sie es kosten würde. Ihre Familie war möglicherweise tiefer in die Schattenwelt verwickelt, als sie es jemals für möglich gehalten hätte. Und wenn das wahr war, dann war ihre Mission, die Wahrheit ans Licht zu bringen, noch persönlicher geworden.