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Liebesromane an einem Ort

reader.chapterFlüstern der Gemälde


Elena D’Amico

Der Nachmittag schien sich in der Villa unmerklich hinzuziehen, als hätte die Zeit hier ihre eigenen Regeln. Elena saß auf einem niedrigen Hocker vor einem der Gemälde in der Galerie – ein Porträt von beeindruckender Größe und Detailgenauigkeit. Die dargestellte Frau, deren Augen eine Mischung aus Stolz und tiefer Melancholie zeigten, schien sie fast anklagend anzusehen. Das Licht der hohen schmalen Fenster fiel trübe auf die Leinwand, brachte die feinen Pinselstriche jedoch gerade genug zum Leuchten, um die Illusion von Lebendigkeit zu verstärken.

Elena atmete tief durch, die vertrauten Bewegungen des Reinigens beruhigten sie ein wenig. Ihre Fingerspitzen glitten über das weiche Tuch, das sie vorsichtig über die Oberfläche der Leinwand führte. Doch selbst ihre gleichmäßigen Atemzüge hallten in der erdrückenden Stille der Galerie wider, als ob die Wände lauschten und antworteten – ein fast lebendiges, unsichtbares Publikum.

Ein leises Knacken ließ sie innehalten. Sie drehte sich um, doch der lange Gang der Galerie war leer, und die Schatten zwischen den Gemälden blieben regungslos. Es war nicht das erste Mal, dass sie dieses Gefühl hatte, beobachtet zu werden – und doch schien es diesmal intensiver, beinahe greifbar. Ein Kältezittern lief ihr den Rücken hinunter, als sie sich zwang, weiterzuarbeiten.

Doch während sie das Porträt reinigte, bemerkte sie etwas Seltsames. Direkt unterhalb des Halses der gemalten Frau war eine kleine Einkerbung in den Farbschichten. Fasziniert zupfte sie vorsichtig daran, bis die untere Schicht sichtbar wurde. Ein feines Symbol kam zum Vorschein – ein weiteres Labyrinth, exakt wie das, das sie am Vormittag entdeckt hatte.

Ihr Herz schlug schneller. Sie zog die Skizze ihres Vaters aus der Tasche und verglich die beiden Darstellungen. Kein Zweifel – sie waren identisch. Doch wie war das möglich? Was hatte ihr Vater mit dieser Villa zu tun? Die Erkenntnis war wie ein Riss in der festen Realität, ein Spalt, durch den etwas Unbekanntes eindrang. Ihre Finger zitterten leicht, als sie die Skizze wieder einsteckte, und ein dumpfer Druck breitete sich in ihrer Brust aus.

Ein eisiger Schauer kroch ihr über den Rücken, als sie plötzlich das Gefühl hatte, nicht mehr allein zu sein. Sie wandte sich ruckartig um. Aus dem Augenwinkel glaubte sie, eine Bewegung in einem der Gemälde wahrzunehmen, doch als sie genauer hinsah, starrten die Figuren ihr stumm entgegen.

„Ein faszinierendes Werk, nicht wahr?“

Die sanfte, tiefe Stimme ließ sie zusammenzucken. Adrian Blackwood stand wenige Meter entfernt, sein Blick ruhte mit einer Mischung aus Neugier und etwas, das sie nicht deuten konnte, auf ihr. Sein Auftauchen war so leise gewesen, dass es sie erneut erschütterte, wie sehr sich dieser Mann mit der Umgebung der Villa zu verschmelzen schien.

„Es ist … ungewöhnlich“, brachte Elena hervor, bemüht, ihre Nervosität zu überspielen. „Die Details, die Schichten der Farben – ich habe noch nie so etwas gesehen.“

„Die Gemälde hier sind einzigartig“, antwortete Adrian, während er nähertrat. Sein Blick wanderte über die Leinwand, als suche er nach etwas Bestimmtem. „Man sagt, dass Kunst manchmal mehr enthüllt, als uns lieb ist.“

Elena spürte, wie sich ihr Nacken verspannte. „Was meinen Sie damit?“

Adrian schwieg für einen Moment, bevor ein schwaches Lächeln seine Lippen umspielte. „Kunst ist kein bloßes Abbild, Miss D’Amico. Sie ist ein Spiegel – für den Betrachter und manchmal auch für den Künstler selbst. Aber manche Spiegel … zeigen Dinge, die wir lieber vergessen würden.“

Seine Worte, so poetisch sie auch klangen, schienen etwas Dunkleres zu verbergen, als er bereit war zuzugeben. Elena suchte nach einer Antwort, doch bevor sie etwas sagen konnte, drehte Adrian sich um und verließ die Galerie mit seiner üblichen lautlosen Eleganz.

Sie blieb allein zurück, ihre Gedanken ein Wirrwarr aus Fragen und ungeklärten Vermutungen. Die Luft in der Galerie fühlte sich plötzlich schwerer an, beinahe erstickend, und sie beschloss, eine Pause einzulegen.

Die Bibliothek schien ein geeigneter Rückzugsort zu sein, und als sie den Raum betrat, spürte sie die vertraute, beruhigende Präsenz von Büchern und Papier. Die hohen Regale, gesäumt von Leitern, schienen wie Wächter über ein Wissen zu stehen, das nur darauf wartete, entdeckt zu werden.

Elena ließ ihre Finger über die Buchrücken gleiten, suchte nach einem Hinweis – irgendeinem Anhaltspunkt, der ihr helfen konnte, die Rätsel der Villa zu entschlüsseln. Plötzlich fiel ihr ein alter, vergilbter Band ins Auge, dessen Rücken mit einem Symbol verziert war, das dem Labyrinth in den Gemälden ähnelte.

Mit zitternden Händen zog sie das Buch hervor und schlug es auf. Die Seiten waren dicht beschrieben, doch die Sprache war eine Mischung aus Latein und einer anderen, unbekannten Schrift. Zwischen den Seiten fand sie eine kleine Skizze, die eine Szene darstellte: eine Frau, die von einem düsteren Wald umgeben war, während sich um sie herum ein Kreis aus Symbolen formte.

Elenas Atem wurde flacher. Die Frau in der Skizze trug ein Medaillon, das dem auf ihrer eigenen Brust ähnelte. Das Bild schien sie zu verhöhnen – ein Echo aus einer Zeit, die sie nicht verstehen konnte.

„Was für ein Zufall.“

Sie fuhr herum und sah Lucas, den Gärtner, der sich unsicher an der Tür der Bibliothek aufhielt. Seine Anwesenheit schien fehl am Platz, doch in seinem Blick lag etwas Dringliches, beinahe Flehendes.

„Miss, Sie sollten wirklich vorsichtig sein“, flüsterte er, während er näher trat. „Manchmal habe ich das Gefühl, die Villa entscheidet selbst, wer bleiben darf.“

„Was meinen Sie damit?“ fragte Elena, ihre Stimme zwischen Neugier und Unruhe schwankend.

Lucas zögerte, als kämpfe er mit sich selbst, bevor er leise hinzufügte: „Manche Dinge sollten besser verborgen bleiben. Es gibt Dinge, die selbst die Zeit nicht heiligt.“

Bevor sie mehr fragen konnte, verließ er den Raum und ließ Elena allein mit noch mehr Fragen als zuvor zurück.

Später, als der Abendhimmel die Villa in ein undurchdringliches Dunkel hüllte, kehrte Elena in die Galerie zurück. Sie musste mehr über das Labyrinth und die Verbindung zu ihrem Vater herausfinden.

Diesmal fiel ihr Blick auf ein anderes Gemälde, das eine düstere Landschaft zeigte, in der ein einzelner Baum mit gespaltenem Stamm stand. Der Anblick ließ etwas in ihr aufwallen – ein Gefühl von Verlust, so tief und schmerzhaft, dass ihr die Kehle eng wurde. Wie ein Bild aus einem längst vergessenen Traum.

Sie näherte sich der Leinwand, und als sie ihre Hand darüber gleiten ließ, spürte sie, wie eine seltsame Wärme von der Oberfläche ausging. Ein leises, kaum wahrnehmbares Flüstern erfüllte die Luft, so leise, dass sie sich fragte, ob es nur in ihrem Kopf existierte.

Die Worte waren unverständlich, und doch hatte sie das bedrückende Gefühl, dass sie nicht allein war. Als sie zurückwich, flackerte das Licht der Kerzen an den Wänden, und für einen Moment schien es, als würde eine der Figuren auf den Gemälden den Kopf drehen und sie ansehen.

Der Schrei, der ihr entfuhr, war leise, kaum lauter als ein Hauch. Doch ihre Knie zitterten, und sie stolperte rückwärts, bis sie die Wand hinter sich spürte.

Die Galerie lag wieder still, doch Elena wusste, dass sie gerade eine Grenze überschritten hatte – eine Grenze, die sie nicht mehr zurückgehen lassen würde. Die Geheimnisse der Villa waren nicht länger nur in den Mauern verborgen; sie lebten, atmeten und beobachteten. Und Elena war in ihrem Bann gefangen.