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Liebesromane an einem Ort

reader.chapterSchatten der Vergangenheit


Elena D’Amico

Der erste Morgen in der Villa begann mit einem schwachen Licht, das kaum durch die schweren Vorhänge in Elenas Zimmer sickerte. Das Flüstern der vergangenen Nacht hatte ihren Schlaf nur oberflächlich und voller Unruhe gemacht. Nun lag sie wach, starrte an die kunstvoll verzierte Zimmerdecke und spürte die unerklärliche Schwere der Luft, die sie zu erdrücken schien. Ein Teil von ihr wollte glauben, dass die seltsamen Geräusche und das murmelfeine Flüstern nichts weiter als ein Traum gewesen waren, doch eine innere Stimme widersprach: Es war real gewesen.

Mit einem tiefen Atemzug schwang Elena die Beine aus dem Bett, ihre nackten Füße fanden kalten Halt auf dem kühlen Holzboden. Sie griff instinktiv nach dem Medaillon, das sie um ihren Hals trug – der kühle Metallkontakt war ein beruhigendes Gewicht, ein vertrauter Trost inmitten der Fremdartigkeit dieses Ortes. Als sie sich anzog, wählte sie eine schlichte Bluse und eine dunkle Hose, praktische Kleidung, die ihr ein Gefühl von Normalität und Effizienz gab.

Kaum hatte sie die Tür geöffnet, wehte eine plötzliche, unerwartet kühle Brise durch den Flur, als hätte die Villa sie begrüßt – oder gewarnt. Die Schatten entlang der dunklen Korridore schienen sich zu bewegen, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Elena bewegte sich langsam, ihre Schritte ein leises Knarren auf den alten Dielen. Der Duft von Wachs und der Hauch abgestandenen Holzes schwebte durch die Stille, und irgendwo in der Ferne hörte sie das Flüstern von Stimmen.

Die Stimmen führten Elena schließlich in die Haupthalle. Dort wartete Samuel, der Butler, in regungsloser Haltung, als wäre er einfach aus den Schatten der Villa herausgetreten. Er verbeugte sich leicht, sobald er Elena bemerkte.

„Guten Morgen, Miss D’Amico. Mr. Blackwood hat angeordnet, dass Sie ein Frühstück im Salon einnehmen. Danach werden wir Sie in die Gemäldegalerie begleiten, wo Sie mit Ihrer Arbeit beginnen können.“

Seine Stimme war ruhig, beinahe mechanisch, wie das einer perfekt programmierten Maschine. Elena nickte nur, obwohl sich ein Knoten der Nervosität in ihrer Brust festzog. Sie folgte ihm, ihre Gestalt im schwachen Licht der Haupthalle wie ein Schatten.

Der Salon war ein Raum von kühler Eleganz, mit einem massiven Tisch, der mit schwerem Besteck und einer beeindruckenden Auswahl an Speisen gedeckt war. Das Licht der Kerzenleuchter spielte auf den dunklen Holzpaneelen der Wände. Elena nahm zögerlich Platz, doch ehe sie auch nur eine Gabel heben konnte, trat eine Frau ein.

„Miss D’Amico.“ Die Frau war groß und hager, gekleidet in ein schlichtes schwarzes Kleid, das ihre Ernsthaftigkeit noch unterstrich. Ihre Haut war blass, ihr Ausdruck streng. „Ich bin Mrs. Thornton, die Haushälterin. Ich hoffe, Sie finden sich in der Villa zurecht.“

„Es ist … ein beeindruckender Ort“, antwortete Elena vorsichtig. Die Augen der Haushälterin schienen sie zu durchbohren, mit einem Blick, der Gedanken zu lesen schien.

„Die Villa ist mehr als beeindruckend,“ sagte Mrs. Thornton leise und sprach dabei, als wäre jedes Wort sorgfältig abgewogen. „Sie ist ein Ort voller Geschichte. Einige Geschichten sind faszinierend, andere … sollten besser ruhen.“

Ihre Worte hallten in Elenas Gedanken nach, selbst nachdem Mrs. Thornton den Raum verlassen hatte. Eine neue, kalte Unruhe beschlich sie. Was meinte die Haushälterin?

Nach dem Frühstück führte Samuel Elena zur Gemäldegalerie. Die schwere Tür knarrte laut, als er sie öffnete, und ein Hauch von Demut überkam Elena, als sie den Raum betrat. Die Galerie war ein schmaler, langer Raum, dessen Wände dicht mit Gemälden bedeckt waren. Die Werke schienen eine Symphonie von Farben und Gefühlen zu spielen, die Elena sofort in ihren Bann zogen.

Viele der Kunstwerke waren atemberaubend – meisterhaft gemalt, voller Details, die die Zeit überdauert hatten. Doch je länger sie hinsah, desto mehr entdeckte sie eine beunruhigende Qualität in ihnen. Die Augen der dargestellten Figuren schienen sie zu beobachten, die Perspektiven wirkten seltsam verzerrt, und die Lichtdarstellungen hatten etwas Unnatürliches. Es war, als ob die Leinwände lebendig wären.

„Die Sammlung ist einzigartig“, erklang plötzlich eine leise Stimme hinter ihr. Elena zuckte zusammen und drehte sich um. Adrian Blackwood stand nur wenige Schritte entfernt, seine Präsenz überwältigend.

„Wie viele dieser Gemälde haben Sie selbst gesammelt?“ fragte Elena und bemühte sich um einen neutralen Ton, während ihre Augen weiterhin auf die Werke gerichtet blieben.

„Die meisten sind Erbstücke“, erwiderte Adrian und trat näher. Sein Blick ruhte auf einem Porträt an der gegenüberliegenden Wand – ein Bildnis einer Frau mit langem Haar und einem Ausdruck tiefer Sehnsucht. „Sie gehören zur Geschichte meiner Familie. Doch … einige scheinen ihren Weg von selbst hierher gefunden zu haben. Die Seele der Kunst ist ein eigenwilliges und unergründliches Wesen.“

Elena runzelte die Stirn, perplex von der Bedeutung seiner Worte. Sie erwiderte nichts, fühlte jedoch, wie ihre Faszination wuchs, begleitet von einem wachsenden Unbehagen.

Adrian lenkte das Gespräch geschickt zurück auf ihre Arbeit. „Ich bin gespannt, was Sie in diesen Gemälden sehen werden, Miss D’Amico. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Man sagt, Sie haben ein außergewöhnliches Auge für Details.“

Seine Worte hinterließen einen seltsamen Nachgeschmack, während sein Blick sie durchdringend musterte. Bevor sie antworten konnte, ließ er sie allein.

Elena wandte sich einem Gemälde zu, das eine Frau mit melancholischem, durchdringendem Blick zeigte. Beim Reinigen der Oberfläche entdeckte sie ein feines Symbol in die Farbe eingraviert – ein kleines Labyrinth.

Ihr Atem stockte. Sie erinnerte sich an dieses Symbol. Es war dasselbe, das in der geheimnisvollen Zeichnung ihres Vaters auftauchte, die sie seit ihrer Kindheit begleitet hatte.

Ihre Gedanken rasten. Wie war das möglich? Was hatte dieses Symbol hier zu bedeuten? Die plötzliche Erkenntnis ließ ihre Hände zittern, und sie trat einen Schritt zurück.

Eine Bewegung hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken. Es war Lucas, der junge Gärtner, der sie unsicher anlächelte. Seine Kleidung war einfach, seine Hände noch erdverschmiert.

„Ich wollte nur sehen, ob Sie Hilfe brauchen, Miss“, sagte er zögerlich.

„Ich komme zurecht, danke“, antwortete Elena, konnte aber die Nervosität in seinem Blick nicht übersehen.

Lucas trat näher, seine Stimme wurde leise. „Seien Sie vorsichtig mit Mr. Blackwood. Und mit diesem Ort. Die Villa … hat eine Macht, die wir nicht verstehen.“

Seine Worte ließen Elena frösteln. Bevor sie etwas erwidern konnte, drehte er sich hastig um und verließ die Galerie. Seine Warnung hallte in ihrem Kopf wider, während sie wieder auf das Gemälde blickte. Alles an diesem Raum – an dieser Villa – schien lebendig zu sein, als hätte es Augen und Ohren.

Später, als die Nachmittagssonne verblasste, entschied Elena, die Bibliothek zu erkunden. Der Raum war ein Labyrinth aus Büchern, umhüllt von Schatten. Der Duft von altem Papier und Leder lag schwer in der Luft.

In einer Ecke fand sie ein altes Familienalbum, das mit einem schweren Schloss versehen war. Ihre Finger glitten über die lederne Oberfläche, und ein unbestimmtes Gefühl sagte ihr, dass dieses Buch Antworten enthielt. Doch das Schloss blieb fest verschlossen, und kein Schlüssel war in Sicht.

Als die Dämmerung hereinbrach und die Schatten tiefer wurden, kehrte Elena in ihr Zimmer zurück. Der Tag hatte mehr Fragen aufgeworfen als Antworten. Sie saß an ihrem Schreibtisch, holte die Zeichnung ihres Vaters hervor und verglich das Labyrinth-Symbol mit dem auf dem Gemälde. Sie waren identisch.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Vielleicht war es kein Zufall, dass sie hierher eingeladen worden war. Vielleicht hatte ihre Vergangenheit sie direkt an diesen Ort geführt.

Elena dachte an Adrians Worte: „Die Villa hat ihre Geheimnisse.“ Und sie wusste, dass diese Geheimnisse sie nicht mehr loslassen würden.