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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 1Verborgene Schatten


Leona Falkenstein

Der Regen prasselte monoton gegen die Fensterscheiben und verwischte die Lichter Berlins zu einem diffusen Schimmer aus Farben und Schatten. In ihrer kleinen Wohnung, hoch oben unter dem Dach eines alten Mietshauses, saß Leona Falkenstein vor dem flackernden Schein ihres Laptops. Das bleiche Licht tauchte ihr angespanntes Gesicht in ein kaltes Leuchten, während ihre haselnussbraunen Augen unermüdlich über den Bildschirm huschten.

Sie hatte die Jalousien heruntergelassen, um neugierige Blicke abzuhalten, doch der Regen trommelte ein unaufhörliches Lied der Melancholie. Neben ihr stapelten sich leere Tassen und zerknitterte Notizen, Zeugen unzähliger Stunden des Suchens und Forschens. Auf dem Monitor wechselten endlose Reihen von Codes und verschlüsselten Nachrichten, während sie sich durch die Tiefen illegaler Netzwerke hackte.

Jeder Klick, jedes Eindringen in ein fremdes System brachte sie ihrem Ziel näher – oder zumindest hoffte sie das. Noah war verschwunden, und die Behörden hatten seinen Fall längst aufgegeben. Für sie jedoch war Aufgeben keine Option. Seit Wochen durchforstete sie jede erdenkliche Spur, verfolgte jede noch so dünne Fährte. Schlaf wurde zur Nebensache, Essen zur lästigen Pflicht.

Ein leises Piepen signalisierte einen Treffer. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie die neue Datei öffnete. Es war ein verschlüsseltes Dokument, dessen Codierung ihr vertraut vorkam. Sie runzelte die Stirn und begann, die Schutzmechanismen zu umgehen. Zeile für Zeile arbeitete sie sich vor, bis sich schließlich der Text vor ihr entfaltete.

Doch statt einer konkreten Information fand sie nur kryptische Andeutungen. Phrasen wie "Der Adler ist gelandet" und "Die Schatten bewegen sich bei Nacht" sprangen ihr entgegen. Frustriert lehnte sie sich zurück und fuhr sich durchs Haar, wobei sich einzelne Strähnen aus ihrem lockeren Zopf lösten.

Ihr Blick glitt zu einem Foto auf dem Schreibtisch. Es zeigte sie und Noah als Kinder, lachend am Ufer der Elbe. Seine blonden Locken und sein strahlendes Lächeln kontrastierten mit ihrer ernsteren Miene. Sie erinnerte sich an diesen Tag, an das Gefühl von Sonne auf der Haut und die Unbeschwertheit ihrer Kindheit – bevor der Anschlag ihre Welt erschüttert hatte.

Unwillkürlich legte sie eine Hand auf die Narbe über ihrer rechten Augenbraue. Ein ständiger Begleiter, ein Mahnmal für Verlust und Schuld. Sie hatte es nicht verhindern können, damals nicht und auch jetzt nicht. Doch diesmal würde sie kämpfen.

Entschlossen wandte sie sich wieder dem Bildschirm zu. Wenn die Bruderschaft dachte, sie könnte sie mit Rätseln abschrecken, hatten sie sich getäuscht. Sie öffnete ein neues Fenster und begann, Verbindungen zwischen den Begriffen herzustellen. "Adler", "Schatten", "Nacht" – es musste einen Zusammenhang geben.

Stunden vergingen, während sie tiefer in das Geflecht aus Informationen eintauchte. Die Welt um sie herum verblasste, nur noch der Rhythmus ihrer Atmung und das Klackern der Tastatur blieben. Schließlich stieß sie auf einen Namen: "Aquila." Latein für Adler. Ihr Puls beschleunigte sich.

Sie erinnerte sich an Gerüchte über eine Organisation, die sich so nannte. Im Militär hatte sie von geheimen Operationen gehört, Flüstern über eine Bruderschaft, die im Verborgenen agierte. Könnte Noah in ihre Machenschaften verwickelt sein?

Ein plötzliches Klopfen an der Wand ließ sie zusammenzucken. Ihr Nachbar, vermutlich genervt von ihrem nächtlichen Treiben. Sie ignorierte es und konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm.

Eine neue Nachricht tauchte auf, erneut verschlüsselt. Sie biss sich auf die Lippe und begann, den Code zu knacken. Die Worte entfalteten sich:

"Er sucht nach der Wahrheit. Doch die Wahrheit kostet."

Ihr Atem stockte. War das eine Warnung? Oder ein Hinweis? Sie spürte eine Mischung aus Angst und Hoffnung.

Eine Erinnerung flutete in ihren Geist: Sie und Noah, wie sie als Kinder Verstecken spielten. "Du findest mich nie!", hatte er gerufen, sein Lachen hallte durch den Garten. Doch sie hatte ihn immer gefunden. Sie kannte ihn besser als jeder andere.

"Ich werde dich finden", flüsterte sie entschlossen.

Sie überprüfte erneut die Sicherheitsvorkehrungen an ihrem System, verschlüsselte ihre eigenen Spuren. Die Gefahr war real, aber sie musste weitermachen. Sie öffnete eine Karte von Berlin und markierte die Orte, die mit "Aquila" in Verbindung standen. Es waren nicht viele, aber es war ein Anfang.

Der Regen hatte nachgelassen, und das erste Licht der Morgendämmerung kämpfte sich durch die Wolken. Erschöpft rieb sie sich die Augen und beschloss, eine kurze Pause einzulegen. Sie stand auf und streckte sich, spürte die Verspannungen in ihrem Rücken.

In der kleinen Küche machte sie sich einen starken Kaffee. Der bittere Duft erfüllte den Raum und vertrieb die letzte Müdigkeit. Sie lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und ließ ihren Blick durch die Wohnung schweifen. Karge Wände, wenige Möbel, alles funktional. Persönliche Gegenstände waren rar gesät, bis auf das Foto von Noah und einige Bücher.

Sie nahm die Tasse und trat ans Fenster. Die Stadt erwachte zum Leben, Menschen eilten durch die Straßen, Autos staute sich an den Ampeln. Ein Gefühl der Isolation überkam sie. So viele Menschen, doch niemand, dem sie vertrauen konnte.

Ihr Blick fiel auf eine Gestalt unten auf der Straße. Ein Mann in dunkler Kleidung stand an der Ecke, den Blick nach oben gerichtet. Sie spürte einen Kälteschauer. War das Zufall? Oder wurde sie beobachtet?

Sie stellte die Tasse ab und griff nach ihrem Fernglas. Vorsichtig spähte sie durch die Linsen. Doch der Mann war verschwunden. Sie fluchte leise. Die Paranoia begann, an ihr zu nagen.

Zurück am Schreibtisch entschied sie, dass es Zeit war, das Haus zu verlassen. Sie musste vor Ort recherchieren, vielleicht gab es Spuren, die sie online nicht finden konnte.

Schnell packte sie ihre Sachen: Laptop, Notizbuch, ihr Messer, das sie in einem Stiefel verstaute. Sie zog eine dunkle Jacke an, die ihr Bewegungsfreiheit ließ, und band ihre Haare zu einem festen Zopf.

Bevor sie die Wohnung verließ, hielt sie einen Moment inne. Ein letzter Blick auf das Foto von Noah gab ihr die nötige Kraft. "Bis bald", murmelte sie und verschwand durch die Tür.

Die kalte Luft schlug ihr entgegen, als sie das Gebäude verließ. Sie verschmolz mit den Schatten der Hauseingänge, immer wachsam, immer bereit. Ihr Weg führte sie zum Alexanderplatz, einem der markantesten Orte Berlins. Die Menschenströme machten es leicht, unerkannt zu bleiben.

Am Fuß des Fernsehturms blieb sie stehen und beobachtete die Umgebung. Sie suchte nach Hinweisen, nach Zeichen, die nur für Eingeweihte sichtbar waren. Ihr Blick blieb an einem Graffiti hängen: ein stilisierter Adler, kaum sichtbar hinter einer Litfaßsäule.

"Da bist du also", dachte sie und näherte sich unauffällig. Neben dem Zeichen stand eine Zahl: 23. Ohne zu zögern machte sie ein Foto und notierte sich die Information.

Plötzlich spürte sie eine Präsenz hinter sich. Instinktiv spannte sie sich an, bereit zum Kampf. Doch als sie sich umdrehte, war da nur ein alter Mann, der ihr einen Flyer entgegenhielt. "Eine Spende für die Obdachlosen?", fragte er mit heiserer Stimme.

Sie atmete erleichtert aus und schüttelte den Kopf. "Vielleicht ein andermal."

Er nickte verständnisvoll und schlurfte davon.

Sie musste sich zusammenreißen. Die Anspannung zerrte an ihren Nerven. Sie beschloss, in ein nahegelegenes Café zu gehen, um ihre Gedanken zu ordnen.

Drinnen bestellte sie einen starken Espresso und setzte sich an einen Tisch mit Blick auf den Platz. Sie holte ihr Notizbuch heraus und begann, die bisherigen Hinweise zusammenzutragen. Die Zahl 23 könnte auf ein Datum hinweisen, eine Uhrzeit oder vielleicht eine Adresse.

Während sie nachdachte, fiel ihr Blick auf einen Mann am anderen Ende des Cafés. Dunkle Haare, eisgraue Augen, die sie durchdringend betrachteten. Ihre Alarmglocken schrillten. War das Zufall oder Verfolgung?

Sie entschied sich, nichts zu riskieren. Schnell zahlte sie und verließ das Café durch den Hinterausgang. Die Gassen hinter dem Alexanderplatz waren verworren, aber sie kannte sich aus. Sie schlängelte sich durch die Straßen, immer darauf bedacht, nicht verfolgt zu werden.

Nach einigen Minuten blieb sie stehen und lauschte. Nichts. Vielleicht hatte sie sich geirrt.

Zurück in ihrer Wohnung ließ sie sich erschöpft auf den Stuhl fallen. Sie war keinen Schritt weitergekommen, und die Zeit drängte. Doch aufgeben war keine Option.

Sie beschloss, erneut in die tieferen Schichten des Netzes einzutauchen. Vielleicht hatte sie etwas übersehen. Während der Computer hochfuhr, spürte sie eine Müdigkeit, die tief in ihren Knochen saß. Doch sie würde weiterkämpfen.

Die Schatten um sie herum wurden länger, und die Geräusche der Stadt verblassten. In der Stille ihrer Wohnung war nur das leise Summen des Computers zu hören und ihr eigener Atem.

"Ich finde dich, Noah", flüsterte sie entschlossen. "Egal, was es kostet."