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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 3Die Begegnung


Leona Falkenstein

Der bleierne Himmel über Berlin hatte die Stadt in ein dunkles Grau gehüllt, als Leona Falkenstein sich über den flackernden Bildschirm ihres Laptops beugte. In ihrer kleinen Wohnung, hoch oben im vierten Stock eines unscheinbaren Altbaus in Kreuzberg, herrschte gespannte Stille. Nur das leise Summen des Laptops und das monotone Ticken der Wanduhr begleiteten sie. Von der Straße drangen gedämpft die Geräusche der Großstadt herauf – das entfernte Hupen von Autos, das Rattern der U-Bahn, die sirrenden Gespräche von Passanten.

Seit Stunden saß sie nun schon hier, umgeben von Notizbüchern, zerknitterten Papierfetzen und einer Tasse kaltem Kaffee. Ihre haselnussbraunen Augen verfolgten aufmerksam die komplexen Codes und Symbole auf dem Bildschirm. Dunkle Schatten zeichneten sich unter ihren Augen ab, doch die Müdigkeit hatte keine Chance gegen die unermüdliche Entschlossenheit, die in ihr brannte.

"Wo versteckst du dich, Noah?", flüsterte sie und fuhr sich mit der Hand durch das schulterlange, dunkelbraune Haar, das lose zu einem Zopf gebunden war. Die feine Narbe über ihrer rechten Augenbraue blitzte im schwachen Licht auf – ein stiller Zeuge ihrer Vergangenheit.

Plötzlich wurde der Bildschirm schwarz. Ein rotes Symbol erschien: ein stilisierter Adler – Aquila. Leonas Herz setzte einen Schlag aus. "Aquila...", murmelte sie. Das Emblem der Bruderschaft. Ihre Finger flogen über die Tastatur, versuchten, hinter die Fassade der Nachricht zu blicken. Doch ein Passwortschutz versperrte ihr den Weg.

"Natürlich macht ihr es mir nicht leicht", sagte sie leise und lehnte sich zurück. Sie atmete tief durch, schloss für einen Moment die Augen. Ihr militärisches Training kam ihr zugute. "Konzentration", dachte sie. "Keine Fehler."

Sie öffnete ihr Entschlüsselungsprogramm, gab spezielle Befehle ein und ließ den Algorithmus arbeiten. Während der Fortschrittsbalken langsam voranschritt, schweiften ihre Gedanken ab.

Sie erinnerte sich an den Tag, als Noah ihr von Aquila erzählt hatte. Er hatte diesen Namen in Verbindung mit mysteriösen Treffen und verschwundenen Personen genannt. Sein Gesichtsausdruck war ernst gewesen, die sonst so fröhlichen Augen voller Sorge. "Ich glaube, ich bin etwas Großem auf der Spur, Lea", hatte er gesagt. "Etwas Gefährlichem."

Ein Piepton signalisierte das Ende der Entschlüsselung. Leona konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm. Eine Reihe von Koordinaten erschien, gefolgt von einer kurzen Nachricht: "Vertraue niemandem."

Sie spürte einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen. "Vertraue niemandem", wiederholte sie leise. Ihre Augen wanderten zu der Karte von Berlin, die an der Wand hing. Mit einem Stift markierte sie die Koordinaten. Ihr Blick verharrte auf dem Punkt.

"Das verlassene Krankenhaus an der Müllerstraße", sagte sie und runzelte die Stirn. Ein Ort, der seit Jahren verfiel, gemieden von den meisten Bewohnern der Stadt. Ein perfekter Ort für Geheimtreffen und zwielichtige Geschäfte.

Sie wandte sich wieder dem Bildschirm zu, durchforstete ihre Datenbanken. Bruchstücke von Informationen tauchten auf – Gerüchte über Aktivitäten der Bruderschaft in diesem Gebiet, Berichte über Sichtungen von unbekannten Personen. Alles fügte sich zu einem beunruhigenden Bild zusammen.

Leona stand auf und ging zum Fenster. Sie schob den Vorhang einen Spalt zur Seite und blickte hinaus. Die Straße lag dunkel und verlassen da, nur erleuchtet vom matten Schein der Laternen. Trotzdem beschlich sie das Gefühl, dass dort draußen jemand war.

Sie ging zurück zum Tisch, nahm ein altes Fotoalbum zur Hand. Zwischen den Seiten fand sie ein Bild von Noah und ihr, aufgenommen vor vielen Jahren. Zwei lachende Kinder, unbeschwert und voller Träume. Sie strich mit dem Finger über sein Gesicht. "Ich lasse dich nicht im Stich", flüsterte sie. "Egal, was kommt."

Entschlossen begann sie, ihre Ausrüstung zusammenzusuchen. Sie zog ihre robusten Stiefel an, überprüfte das Klappmesser und steckte es in den Schaft. Eine kleine Taschenlampe, ein Notizbuch mit allen wichtigen Informationen und ihr Handy wanderten in die Taschen ihrer Jacke.

Als sie gerade den Rucksack schultern wollte, hörte sie ein kaum wahrnehmbares Geräusch. Ein Kratzen, so leise, dass sie es fast überhört hätte. Sie hielt inne, lauschte angespannt. Da war es wieder – ein leises Schaben an der Wohnungstür.

Leonas Herzschlag beschleunigte sich. Sie griff nach dem Messer und bewegte sich lautlos in Richtung Flur. Ihre Sinne waren geschärft, jede Bewegung bedacht. Vorsichtig blickte sie durch den Türspion. Nichts als Dunkelheit. Doch sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass jemand da war.

Plötzlich vibrierte ihr Handy in der Tasche. Sie zuckte zusammen, zog es hastig hervor. Eine unbekannte Nummer. Sie zögerte einen Moment, dann nahm sie ab.

Stille. Nur ein leises Atmen am anderen Ende. "Hallo?", sagte sie vorsichtig.

Eine verzerrte Stimme antwortete: "Vertraue niemandem."

Bevor sie reagieren konnte, war die Verbindung unterbrochen. Leona starrte auf das Display, ihr Puls raste. "Was soll das?", flüsterte sie. Waren sie ihr so nahe?

Sie steckte das Handy weg und atmete tief durch. "Bleib ruhig", sagte sie zu sich selbst. "Lass dich nicht einschüchtern."

Sie schloss die Augen und konzentrierte sich. Die Warnung war klar, aber sie würde sich nicht davon abhalten lassen. Noah brauchte sie.

Sie überprüfte ein letztes Mal ihre Ausrüstung, dann ging sie zur Tür. Bevor sie hinausging, warf sie einen Blick zurück in die Wohnung. Ein Ort der Erinnerungen, doch jetzt nicht der richtige Moment für Sentimentalitäten.

Der Flur war dunkel, nur das schwache Licht einer einzigen Glühbirne erhellte die Stufen. Leona bewegte sich leise nach unten, aufmerksam auf jedes Geräusch. Als sie die Haustür erreichte, hielt sie inne und lauschte. Nichts als die entfernten Geräusche der Stadt.

Draußen umfing sie die kühle Nachtluft. Sie zog die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf und verschmolz mit den Schatten. Ihr Weg führte sie durch schmale Gassen und Hinterhöfe, vorbei an geschlossenen Läden und dunklen Schaufenstern. Sie kannte die Stadt wie ihre Westentasche, wusste, welche Routen sie meiden musste.

Während sie sich dem verlassenen Krankenhaus näherte, spürte sie das Adrenalin in ihren Adern. Die Straßen wurden leerer, die Gebäude heruntergekommener. Trotzdem hatte sie das Gefühl, nicht allein zu sein.

Ein Blick über die Schulter zeigte ihr eine Gestalt in der Ferne. Jemand folgte ihr. Sie beschleunigte ihren Schritt, bog um die nächste Ecke und nutzte das Labyrinth der Gassen, um ihren Verfolger abzuhängen.

Als sie schließlich das verwitterte Tor des Krankenhauses erreichte, hielt sie kurz inne. Das Gebäude erhob sich gespenstisch vor ihr, Fenster wie leere Augenhöhlen, die Fassade von Graffiti übersät. Ein unheimlicher Ort, selbst für jemanden wie sie.

Sie drückte das Tor auf, das mit einem metallischen Quietschen nachgab. Der Innenhof lag still und verlassen da. Der Wind spielte mit verstreuten Papieren und trug den Geruch von Moder und Verfall zu ihr herüber.

Leona betrat das Gebäude, die Hand dicht am Messer. Im Inneren war es dunkel, nur durchbrochen von Mondlicht, das durch die Ritzen fiel. Der Flur erstreckte sich vor ihr, Türen führten zu unbekannten Räumen.

Plötzlich vernahm sie Schritte hinter sich. Sie wirbelte herum, doch niemand war zu sehen. "Zeigt euch!", rief sie, die Stimme fest. Stille.

Sie zwang sich zur Ruhe. "Sie spielen mit dir", dachte sie. "Lass dich nicht provozieren."

Weiter ging sie, tiefer ins Gebäude hinein. Ihr Ziel waren die Koordinaten, die sie auf ihrer Karte markiert hatte. Jede Tür, jeder Raum könnte eine Falle sein.

Ein leises Flüstern ließ sie erneut innehalten. Diesmal klang es, als käme es aus einem der Zimmer auf der rechten Seite. Sie drückte die Tür auf und spähte hinein.

Der Raum war leer, bis auf einen alten Stuhl und einen zerbrochenen Spiegel. Doch auf dem Boden lag ein Umschlag. Sie hob ihn auf und öffnete ihn vorsichtig.

Ein einziges Foto befand sich darin. Noah, gefesselt und mit verbundenen Augen. Wut stieg in ihr auf. Unter dem Foto stand in krakeliger Schrift: "Dies ist deine letzte Warnung."

Leona biss die Zähne zusammen. "Ihr habt den falschen Menschen bedroht", zischte sie.

Ein Schatten bewegte sich hinter ihr. Bevor sie reagieren konnte, spürte sie eine starke Hand auf ihrer Schulter. Instinktiv riss sie sich los und zog das Messer. Ihr Angreifer war groß, das Gesicht im Schatten verborgen.

"Du hättest nicht hierherkommen sollen", sagte er mit kalter Stimme.

"Und du hättest mich nicht unterschätzen sollen", erwiderte sie und ging in Kampfhaltung.

Der Mann griff an, schnelle Schläge, die sie nur knapp abwehren konnte. Ihre militärische Ausbildung half ihr, doch er war stark und gut trainiert. Sie tauschten Hiebe und Tritte aus, das Klirren von Metall hallte durch den Flur.

Mit einem gezielten Stoß gelang es ihr, ihn zurückzudrängen. Sie nutzte den Moment, um zu fliehen, rannte den Flur entlang, die Dunkelheit hinter sich lassend.

"Du kannst nicht entkommen!", hörte sie ihn rufen.

"Wir werden sehen", dachte sie und stürmte nach draußen. Die kühle Nachtluft schlug ihr entgegen, als sie den Hof überquerte. Hinter sich hörte sie die Schritte ihres Verfolgers näher kommen.

Sie erreichte das Tor, doch es klemmte. Verzweifelt zerrte sie daran, als eine Hand ihren Arm packte. Sie drehte sich um und schlug mit dem Ellbogen zu, traf den Mann an der Schläfe. Er stolperte zurück.

Mit aller Kraft stemmte sie sich gegen das Tor, das endlich nachgab. Sie stürzte auf die Straße, rannte ohne zurückzublicken. Ihre Lungen brannten, doch sie zwang sich weiter.

Nach einigen Straßen blickte sie über die Schulter. Keine Spur von ihm. Doch sie wusste, dass es nicht vorbei war.

Sie ließ sich in einer dunklen Nische zwischen zwei Häusern nieder, versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Ihre Gedanken rasten. Wer war dieser Mann? Was wollte er von ihr? Und vor allem – was hatte die Bruderschaft mit Noah vor?

Sie griff nach ihrem Handy, überlegte kurz und wählte dann eine Nummer. Eine vertraute Stimme meldete sich.

"Leona? Was ist los?", fragte Paul, ein alter Kamerad aus Militärzeiten.

"Ich brauche deine Hilfe", sagte sie, die Stimme ernst. "Es geht um Noah."

Stille am anderen Ende, dann: "Wo bist du?"

"Ich kann nicht lange reden. Sie sind hinter mir her. Kannst du Informationen über eine Organisation namens 'Aquila' besorgen?"

"Aquila? Das klingt gefährlich. Bist du sicher?"

"Ja. Und ich brauche alles, was du finden kannst."

"Ich kümmere mich darum. Pass auf dich auf."

"Danke, Paul", sagte sie und legte auf.

Sie atmete tief durch. Ein kleiner Hoffnungsschimmer. Doch die Gefahr war noch nicht gebannt.

Leona beschloss, nicht zu ihrer Wohnung zurückzukehren. Sie musste untertauchen, ihre Schritte planen. Die Straßen von Berlin boten genug Verstecke für jemanden wie sie.

Während sie sich in die Schatten der Nacht begab, schwor sie sich, nicht aufzugeben. Die Bruderschaft hatte ihr die Kriegserklärung geschickt, und sie war bereit zu kämpfen.

[Ende des Kapitels]