Kapitel 3 — Das verbotene Buch der Runen
Aylin
Die Nacht legte sich wie ein schwerer Mantel über Eldrin, und das leise Knarren des Hauses war das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach. Aylin saß auf ihrem Bett, die Knie angezogen, den Blick auf das kleine Fenster gerichtet, durch das einzig der Mondschein einen schmalen Streifen Licht auf den Holzboden malte. Der Schattenwald hatte sie den ganzen Tag nicht losgelassen. Selbst jetzt, umgeben von den vertrauten Wänden ihres Zimmers, schienen das Flüstern und die Dunkelheit zwischen den Bäumen in ihren Gedanken nachzuhallen.
Sie rieb sich die Arme, in der Hoffnung, die Kälte abzuschütteln, die tief in ihre Knochen gedrungen war. Doch es war nicht nur die Kälte der Nacht, die sie spürte. Es war etwas anderes, etwas Unaussprechliches – eine Unruhe, ein Ziehen, das sie nicht ignorieren konnte. Es war, als würde der Wald selbst sie rufen, sein Flüstern in ihrem Kopf verstärken, je mehr sie versuchte, es zu verdrängen.
Ihr Blick wanderte zur Tür des Arbeitszimmers ihres Vaters. Seit sie denken konnte, war dieser Raum für sie verboten gewesen. „Das ist kein Ort für dich“, hatte er immer gesagt, wenn sie auch nur in die Nähe des Raumes gekommen war. Und stets hatte sie den seltsamen Ausdruck in seinen Augen bemerkt – eine Mischung aus Angst, Zorn und Schuld. Doch heute fühlte sich das Verbot weniger wie eine Warnung an und mehr wie eine Herausforderung.
Aylin biss sich auf die Lippe und lauschte. Das leise, gleichmäßige Schnarchen ihres Vaters drang durch die dünnen Wände. Sie zögerte, dann stand sie entschlossen auf. Wenn er ihr die Antworten nicht geben wollte, dann würde sie sie selbst finden müssen – egal, wie.
Barfuß schlich sie über den knarrenden Boden, jedes Geräusch ließ ihr Herz schneller schlagen. Vor der Tür des Arbeitszimmers hielt sie inne. Ihre Hand schwebte über dem Türgriff. Sie atmete flach, ihre Gedanken rasten. Sollte sie wirklich gegen seinen Willen handeln? Doch dann hallten Elaras Worte in ihrem Kopf wider: „Das Gleichgewicht wankt, und du wirst bald eine Wahl treffen müssen.“
Mit einem tiefen Atemzug drückte sie den Griff herunter.
Das Arbeitszimmer war dunkel und roch nach altem Papier und Kerzenwachs. Der Mondschein, der durch das kleine Fenster fiel, ließ die Umrisse eines schweren Schreibtisches, Regale voller Bücher und ein paar verstreuter Papiere auf dem Boden erkennen. Aylin suchte die Wand nach einer Lampe ab, doch alle Dochte waren ausgebrannt. Ein leises Flüstern schien in der Luft zu hängen, so subtil, dass sie nicht wusste, ob es real war oder nur in ihrem Kopf existierte.
Sie schloss die Tür hinter sich und trat vorsichtig in den Raum. Ihre Finger tasteten über den Schreibtisch, bis sie auf eine Kiste stießen. Sie war verschlossen, doch daneben lag ein Schlüssel. Es war fast, als hätte ihr Vater ihn absichtlich dort gelassen – oder vielleicht dachte er, niemand würde es wagen, hier einzudringen.
Mit zitternden Händen öffnete sie die Kiste. Darin lag ein Buch, alt und dick, mit einem Einband aus verblasstem dunklem Leder. Das Symbol einer Flamme war in das Leder gepresst, umgeben von seltsamen, schimmernden Runen, die selbst im schwachen Licht des Mondes zu leuchten schienen.
Zögernd strich sie mit den Fingern über den Einband. Ein sanfter, warmer Impuls schoss durch ihre Hand, als hätte das Buch auf ihre Berührung reagiert. Aylin zog die Hand erschrocken zurück, doch die Neugier siegte. Sie öffnete das Buch und fand Seiten voller Runen und Zeichnungen von Flammen, Kreaturen und Landschaften, die aussahen, als gehörten sie nicht zu dieser Welt.
Ihre Augen huschten über die Symbole, doch sie konnte sie nicht lesen. Trotzdem schien sie etwas zu verstehen – es war, als würde ein Teil von ihr die Bedeutung fühlen, auch wenn ihr Verstand sie nicht begreifen konnte. Plötzlich begann eine der Seiten zu glühen, und ein leises Summen erfüllte den Raum.
Aylin schnappte nach Luft, als sie das Gefühl hatte, in eine Vision gezogen zu werden. Um sie herum verschwammen die Schatten des Raumes, und sie befand sich plötzlich an einem anderen Ort. Der Himmel über ihr war ein endloses Flammenmeer, durchzogen von goldenen und roten Lichtbändern, die wie pulsierende Adern glühten. Der Boden unter ihr schien aus schwarzer, glimmender Asche zu bestehen, die bei jeder Bewegung ihrer Füße Funken sprühte.
Bizarre, schattenhafte Kreaturen glitten durch die Luft, und eine Stimme, warm und doch fremd, flüsterte ihren Namen.
„Aylin...“
Die Runen auf den Seiten des Buches schienen in der Vision lebendig zu sein, wirbelten um sie herum und formten flammende Symbole in der Luft. Sie sah Gestalten, die in einem Kreis standen – Menschen, die eine uralte Zeremonie durchführten. In der Mitte des Kreises loderte ein Feuer, aus dem eine riesige Silhouette auftauchte, deren Augen wie glühende Kohlen brannten. Eine unheilvolle Präsenz drang durch sie hindurch, und Aylin spürte, wie eine glühende Hitze durch ihren Körper pulsierte.
Die Wärme in ihrer Brust wurde intensiver, bis sie fast schmerzhaft war. Es war, als loderte ein Feuer unter ihrer Haut, das jede Faser ihres Wesens durchdrang. Sie wollte schreien, doch kein Laut kam über ihre Lippen.
Plötzlich wurde sie zurück in die Realität gerissen. Das Buch fiel aus ihren Händen auf den Boden, und die leuchtende Seite wurde schlagartig dunkel. Aylin keuchte und hielt sich die Brust, während sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
Die Tür flog auf, und ihr Vater stürmte herein. Sein Gesicht war eine Maske aus Schrecken und Wut, als er sie sah, wie sie zusammengekauert neben dem Buch auf dem Boden saß.
„Was hast du getan?“ Seine Stimme war tief und zittrig, und seine Augen huschten zu dem Buch am Boden. Er packte es hastig und hielt es von sich weg, als wäre es giftig.
„Ich… ich wollte nur...“ begann Aylin, doch ihre Worte klangen hohl, selbst in ihren eigenen Ohren.
„Habe ich dir nicht gesagt, dass du dich hier fernhalten sollst?“ Seine Stimme war jetzt lauter, voller Panik. „Weißt du überhaupt, womit du dich hier einlässt?“
Aylin stand langsam auf, ihre Angst wich einem plötzlichen Zorn. „Nein, weil du mir nichts sagst! Du hältst alles vor mir geheim! Warum? Was hat das alles mit mir zu tun?“
Ihr Vater schüttelte nur den Kopf, sein Blick voller Schmerz. „Das ist nicht deine Bürde. Es war nie deine Bürde.“
„Aber es ist meine!“ schrie sie, und ihre Stimme hallte durch den kleinen Raum. „Ich spüre es, Vater. Es ist in mir, und ich kann es nicht länger ignorieren.“
Er sah sie an, und für einen Moment glaubte sie, einen Hauch von Verzweiflung in seinen Augen zu sehen. Doch dann schloss er sich wieder, wie immer.
„Du verstehst nicht, was du anrichten könntest“, sagte er leise, fast flehend. „Du hast keine Ahnung, was auf dem Spiel steht.“
„Dann erklär es mir!“ Aylin trat einen Schritt auf ihn zu, doch er wich zurück, als würde bereits ihre Nähe ihn verletzen.
„Nein.“ Seine Stimme war eisig. „Du wirst dich von diesem Buch fernhalten. Von allem, was dazugehört. Das ist mein letztes Wort.“
Bevor sie antworten konnte, drehte er sich um und verschwand aus dem Raum, das Buch fest an seine Brust gedrückt.
Aylin blieb allein zurück, ihre Hände ballten sich zu Fäusten, und Tränen der Frustration brannten in ihren Augen. Sie wusste, dass sie ihm nicht vertrauen konnte, nicht mehr. Wenn er nicht bereit war, ihr die Wahrheit zu sagen, würde sie sie selbst finden.
Das Summen des Buches hallte immer noch in ihrem Kopf wider, und die Vision, die sie gesehen hatte, ließ sie nicht los. Etwas in ihr war erwacht, das wusste sie. Etwas, das sie weder verstand noch kontrollieren konnte.
Doch eines war sicher: Sie würde nicht aufhören, bis sie die Antworten gefunden hatte. Egal, welche Gefahren auf sie warteten.