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Liebesromane an einem Ort

Kapitel 2Schatten im Wald


Aylin

Der Himmel über Eldrin spannte sich wie ein bleierner Vorhang, trübes Grau bis zum Horizont. Aylin hörte das scharfe Knirschen des gefrorenen Bodens unter ihren Stiefeln, während die kalte Morgenluft in ihre Wangen biss. Mit einer schweren Tasche an ihrer Seite – gefüllt mit selbstgebackenem Brot und altem Gemüse – folgte sie dem Pfad, der zu den Marktständen führte. Der Weg schlängelte sich dicht am Rand des Schattenwaldes entlang, dessen düstere Silhouette wie eine drohende Flutwelle die Landschaft beherrschte. Die Bäume, uralt und unnachgiebig, standen eng beieinander, als würden sie sich verschwörerisch zuflüstern. Aylin zwang sich, nicht zu oft hinzusehen, obwohl sie das Gefühl nicht abschütteln konnte, dass etwas in den Schatten dort drinnen regungslos verharrte – und sie beobachtete.

Neben ihr ging Lena, ihre einzige Freundin im Dorf, deren fröhliche Plauderei ein flüchtiger Lichtstrahl in Aylins trübem Alltag war. Lenas blondes Haar fiel in einem ordentlichen Zopf über ihre Schulter, und ihre Stimme, hell und optimistisch, versuchte die düstere Stille des Morgens zu durchbrechen. „Hast du schon gehört?“ Lena warf Aylin einen spitzbübischen Blick zu. „Mareas Sohn behauptet, er habe letzte Nacht Lichter im Schattenwald gesehen. Er schwört, sie hätten ihn beobachtet.“

„Lichter?“ murmelte Aylin, ihre Aufmerksamkeit unwillkürlich Richtung Baumgrenze wandernd.

Lena schnaubte und schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich hat er zu viel von dem selbstgebrauten Schnaps seines Vaters getrunken. Oder er wollte nur Aufmerksamkeit.“

Aylin rang sich ein schwaches Lächeln ab, doch das Unbehagen in ihrer Brust ließ sich nicht vertreiben. Die Geschichten über den Wald – flüsternde Stimmen, huschende Gestalten im Dunkeln – waren nicht neu für sie. Doch an diesem Morgen schien die Luft selbst schwerer zu sein, elektrisiert von einer unsichtbaren Spannung. Die Schatten zwischen den knorrigen Bäumen wirkten dunkler als sonst, als würden sie sich ausdehnen und nach ihr greifen.

„Vielleicht hat er recht“, sagte Aylin leise, ohne ihren Blick vom Wald abzuwenden.

Lena hielt inne und sah sie an, ihre Augenbrauen hochgezogen. „Du glaubst doch nicht wirklich an diese Märchen, oder?“

„Ich weiß nicht.“ Aylins Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Ihre Finger krallten sich um den Trageriemen der Tasche. „Manchmal fühlt es sich so an, als ob der Wald... lebt. Als ob er uns beobachtet.“

Lena lachte, doch die Fröhlichkeit klang hohl. „Du klingst wie eine der Alten. Lass dir doch nicht von diesen Geschichten den Kopf verdrehen.“ Sie fasste Aylins Arm und zog sie sanft weiter den Pfad entlang. „Komm schon. Wir haben keine Zeit für solche Hirngespinste.“

Doch je weiter sie gingen, desto stärker wurde das Gefühl, dass sie nicht allein waren. Der Wald schien zu atmen, ein leises, kaum hörbares Geräusch, das zwischen den knarrenden Ästen widerhallte. Aylin spürte, wie die Härchen an ihrem Nacken sich aufstellten. Ein kalter Hauch, wie aus einer unsichtbaren Tiefe, strich über ihre Haut. Ihre Schritte verlangsamten sich, und ihre Augen huschten immer wieder zu den dunklen Baumstämmen, bis sie plötzlich stehen blieb.

„Was ist?“ Lena drehte sich um und folgte ihrem Blick, doch die Baumgrenze blieb für sie still und leblos. „Aylin, da ist nichts.“

„Ich... ich dachte, ich hätte etwas gesehen.“ Aylins Stimme brach, und ihre Hände zitterten unkontrolliert.

Lena legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. „Es ist nur der Wind. Und vielleicht dein Kopf, der dir Streiche spielt. Der Wald kann gefährlich sein, ja – aber nicht wegen Geistern.“

Aylin nickte, doch Lenas Worte brachten ihr keinen Trost. Stattdessen drängte sich ein anderes Geräusch an die Ränder ihres Bewusstseins: ein leises Flüstern, kaum hörbar, als würde jemand ihren Namen rufen. Sie presste ihre Lippen fest zusammen und zwang sich, weiterzugehen, während ihr Herz wie ein gefangener Vogel in ihrer Brust flatterte.

Als sie schließlich den Marktplatz erreichten, spürte Aylin keine Erleichterung. Die engen Gassen des Dorfes, mit ihren gedämpften Stimmen, dem Geruch von feuchtem Stroh und den verfallenen Ständen, boten keinen Schutz vor dem seltsamen Gefühl, beobachtet zu werden. Es war, als würde die Präsenz des Waldes sie bis hierher verfolgen.

Ihre Aufmerksamkeit wurde von der Dorfältesten Elara eingefangen, die, gestützt auf einen knorrigen Stab, in der Mitte des Platzes stand. Mit ihrem langen, grauen Mantel und den durchdringenden Augen wirkte sie wie eine Prophetin aus alten Zeiten. Eine kleine Gruppe von Dorfbewohnern lauschte stumm ihren Worten. Als Elaras Blick auf Aylin fiel, schien die Luft plötzlich stillzustehen. Die grauen Augen der Alten fixierten sie mit einer Intensität, die Aylin den Atem raubte.

Die Menschen wichen unwillkürlich zurück, als Aylin nähertrat – nicht, weil sie es wollte, sondern weil Elaras Blick sie wie ein unsichtbarer Faden zog. Die neugierigen, misstrauischen Augen der Dorfbewohner stachen in ihre Haut wie Dornen.

„Aylin“, sagte Elara, und ihre Stimme schnitt durch die gedämpften Geräusche wie ein Messer. „Du spürst es, nicht wahr? Die Welt verändert sich.“

Aylin wollte antworten, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie nickte nur, das Gewicht von Elaras Worten fraß sich in ihren Verstand.

„Die Schatten bewegen sich“, fuhr Elara fort, ihre Stimme wurde leiser, doch sie hallte in Aylins Ohren wie ein Donner. „Das Gleichgewicht wankt, und du wirst bald eine Wahl treffen müssen. Eine Wahl, die alles verändern wird.“

Die Welt um Aylin begann zu verschwimmen, die Stimmen der Dorfbewohner wurden zu einem dumpfen Summen. Sie spürte die Bedeutung in Elaras Worten, schwer wie ein Fels, doch die wahre Botschaft blieb ihr verborgen.

„Sei bereit, Aylin“, warnte Elara und legte eine seltsame Betonung auf jedes Wort. „Sei bereit.“

Aylin spürte, wie das Blut in ihren Adern zu pulsieren begann, als Elara sich abwandte. Die Dorfbewohner murmelten untereinander, warfen ihr verstohlene Blicke zu, die voller Skepsis und Furcht waren. Doch Aylin war unfähig, klar zu denken. Ihr Magen zog sich zusammen, und ihr Atem ging flach.

Lena zog sie hastig beiseite, weg von den neugierigen Blicken. „Was hat sie gemeint? Was ist los mit dir?“

„Ich weiß es nicht“, flüsterte Aylin, und ihre Stimme klang fremd in ihren eigenen Ohren. „Aber ich... ich muss es herausfinden.“

Der Rest des Tages verging wie in einem Nebel. Die Tauschgeschäfte auf dem Markt, die mitleidigen Blicke der Händler, Lenas leises Drängen – all das schien in den Hintergrund zu rücken, während Aylins Gedanken um das Flüstern und Elaras Worte kreisten. Als sie schließlich allein den Heimweg antrat, verlangsamten sich ihre Schritte, als sie den Pfad entlang des Schattenwaldes erreichte.

Die Dunkelheit zwischen den Bäumen wirkte lebendig, als würde sie atmen. Die Stille war fast greifbar, und der Wind, der am Morgen durch die Welt gezogen war, hatte sich gelegt. Aylin blieb stehen und starrte in die schwarze Tiefe. Ihr Herz klopfte heftig, und das Flüstern drang erneut hervor, diesmal deutlicher. Es war nicht mehr nur der Wind.

Etwas war dort. Etwas wartete auf sie.

Die Erinnerung an Elaras Worte brannte wie Feuer in ihrem Kopf. Die Zeit würde kommen, das wusste sie. Der Wald würde nach ihr rufen, und irgendwann würde sie antworten müssen. Bald. Aber nicht heute. Noch nicht.

Mit einem letzten, zögernden Blick drehte sie sich um und ging zurück nach Hause, das Gefühl des Unvermeidlichen wie eine Last auf ihren Schultern.