Kapitel 1 — Rückkehr in die Dunkelheit
Hanna
Die Stille der Wohnung war wie eine zähe, schwer greifbare Schicht, die Hanna beinahe zu erdrücken schien. Ihre Glieder lagen schwer auf der abgenutzten Matratze des Sofas, das gleichzeitig ihr Bett war. Der Raum um sie herum war spärlich eingerichtet, funktional, ohne jegliche persönliche Note – ein Versteck, das keine Spuren hinterließ. Doch die wachsenden Schatten in den Ecken und das fahle, erste Morgenlicht, das durch die halbgeschlossenen Jalousien fiel, ließen die Enge des Raumes übermächtig erscheinen.
Hannas Augen waren trocken vom Schlafmangel. Seit Stunden hatte sie wachgelegen, die Decke gezählt, die Muster ihrer Träume durchwühlt. Laras Stimme hatte sie heimgesucht, ein hallendes Flüstern, das wie der Wind an ihrer Seele zerrte. „Hanna...“, hatte es gehaucht, die Silbe so sanft und doch so unnachgiebig, dass sie sich in ihr Gedächtnis gebrannt hatte. Es war eine Stimme voller Ungewissheit, ein Echo von Schuld und Hoffnung, das sie aus dem Schlaf gerissen hatte.
Mit einem tiefen Atemzug schwang sie die Beine über den Rand der Couch und setzte sich auf. Ihre nackten Füße berührten den kalten, linoleumartigen Boden, der die Kälte der Nacht gespeichert hatte. Sie rieb sich über das Gesicht, ihre Finger glitten über die raue Linie der Narbe über ihrer rechten Augenbraue – ein vertrautes, greifbares Zeugnis all dessen, was sie überlebt hatte.
Langsam erhob sie sich und ging zum Fenster. Der Raum war still bis auf das leise Knistern der elektrischen Heizplatte in der Ecke. Sie schob die Vorhänge ein Stück zurück, um hinauszusehen. Der Himmel war bleigrau, schwer von ungesagten Versprechen. Der Regen der Nacht hatte die Gassen mit einem schmutzigen Glanz überzogen, und vereinzelte Passanten zogen sich ihre Mäntel enger, während sie hastig durch die Straßen eilten.
Plötzlich erregte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit. Auf dem Fenstersims, wie absichtlich dort platziert, lag eine schwarze Rose. Ihre blutdunklen Blütenblätter wirkten samtig und unnatürlich gegen die triste Umgebung. An ihrem Stiel hafteten noch winzige Wassertropfen, die das schwache Licht des Morgens brachen. Daneben lag eine Karte.
Hannas Atem stockte, ein Schauder rann ihr den Rücken hinab. Ihre Finger zögerten, als sie die Karte aufhob. Die präzise, makellose Handschrift darauf war unverkennbar: „Die Wahrheit hat viele Gesichter.“
Konstantin.
Sein Name durchbohrte ihre Gedanken wie eine scharfe Klinge, ihre Sinne schärfend und gleichzeitig betäubend. Ihre Hände zitterten leicht, als sie die Karte drehte, nach einer weiteren Botschaft suchte, doch die Rückseite blieb leer. Es war genau seine Art – kontrolliert, kalkuliert, und doch voller unterschwelliger Drohungen. Für einen Moment war sie wieder in der Großen Maskenhalle, sah seine eisblauen Augen hinter der goldenen Maske auf sie herabsehen, hörte das sanfte, fast beiläufige Timbre seiner Stimme, das immer eine Spur von Überlegenheit trug.
Sie presste die Lippen zusammen, ihre Finger krümmten sich unbewusst um die Karte. Er wusste, wo sie war. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, trotz der wechselnden Zufluchtsorte und der mühsam aufgebauten neuen Identität. Er hatte sie gefunden – oder er wollte sie zumindest glauben lassen, dass er es konnte.
Ein Zorn entwich ihr in einem schweren Atem, doch darunter lag etwas Tieferes, Dunkleres – die Kälte der Angst, die in ihrem Inneren kroch. Konstantin spielte noch immer sein Spiel, und erneut war sie gezwungen, darauf zu reagieren. Doch diesmal würde sie die Regeln verändern.
Mit entschlossenen Schritten ging sie zur kleinen Küchenzeile. Sie entzündete ein Streichholz und hielt die Karte über die Spüle, beobachtete, wie die Flammen sich durch das Papier fraßen, es in schwarzen, brüchigen Schlieren zerfielen ließen. Als der letzte Funke erlosch, wusch sie die Asche mit Wasser in den Abfluss. Die schwarze Rose nahm sie vorsichtig in die Hand, ihre Finger glitten über die glatten Blütenblätter. Dann stellte sie sie in ein leeres Glasgefäß und schraubte den Deckel fest. Es war eine Botschaft an sich selbst, ein Symbol für ihre Entschlossenheit, Konstantins Einfluss zu bändigen.
Hanna betrachtete den Behälter für einen Moment. Die dunklen Blütenblätter hinter Glas gefangen schienen wie ein Stück der Dunkelheit selbst. Doch sie wusste, dass dies nur der Anfang war. Mit einem Anflug kalter Entschlossenheit begann sie, ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken.
In ihrem abgenutzten Rucksack fanden nur das Wesentliche Platz: Kleidung, eine Taschenlampe, ihr kleines Messer, ein alter Laptop und ihr sicheres Kommunikationsgerät – ein Modell ohne GPS-Funktion, das bereits viele Jahre auf dem Buckel hatte. Sie überprüfte es und stellte sicher, dass es einsatzbereit war, bevor sie es sorgfältig verstaute.
Sie schaltete das Radio ein, während sie weiter packte. Die Stimme einer Moderatorin berichtete von Unruhen in den oberen Gesellschaftsschichten. Es gab Gerüchte über finanzielle Unregelmäßigkeiten und Machtkämpfe in einflussreichen Kreisen. Ein Hauch von Zufriedenheit blitzte in Hannas Augen auf. Konstantins Einfluss war schwächer geworden, doch sie wusste, dass er noch immer gefährlich war, wie ein verwundeter Raubtier, das an der Schwelle zur Verzweiflung stand.
Ein bitteres Lächeln umspielte ihre Lippen. Die Welt schien sich zu verschieben, doch sie konnte es sich nicht leisten, passiv zuzusehen. Wenn Konstantin die Wahrheit für seine Spiele verdrehte, würde sie lernen, die Wahrheit als Waffe zu führen.
Bevor sie die Wohnung verließ, ließ sie ihren Blick noch einmal über den Raum gleiten. Ihre Finger streiften den Rand des Glasgefäßes mit der Rose, dann schloss sie die Tür hinter sich. Die Kühle der Luft begrüßte sie, der Wind trug den vertrauten Geruch von nassem Asphalt mit sich.
Hanna wusste, dass die Dunkelheit ihr nicht länger ein Feind war, sondern ein Verbündeter, wenn sie lernte, ihre Schatten zu kontrollieren. Ihr Schritt war fester, ihr Blick klarer, als sie in den grauen Morgen trat.
Ein neuer Plan formte sich in ihrem Kopf. Sie würde Konstantin einen Schritt voraus sein, die Masken ihrer Gegner lüften, ohne sich selbst hinter einer zu verstecken. Die Wahrheit war ein gefährliches Spiel, aber es war eines, das sie zu spielen gelernt hatte.
Hanna ging vorwärts, bereit, sich der Dunkelheit zu stellen. Die Zeit der Flucht war vorbei.