Kapitel 2 — Das geheime Treffen
Hanna
Der Regen hatte aufgehört, aber die Straßen glänzten noch immer vor Nässe, und der Geruch von Asphalt, gemischt mit dem metallischen Hauch des Regens, hing in der Luft. Die Stadt wirkte wie ein schimmerndes Labyrinth aus Reflexionen, das in der trüben Nachmittagssonne glitzerte. Hanna saß in einem kleinen, unscheinbaren Café an der Ecke einer belebten Seitenstraße, dessen unauffällige Fassade perfekt zu ihrem Bedürfnis nach Anonymität passte. Im Inneren vermischten sich das gedämpfte Klirren von Tassen, die leisen Stimmen der Gäste und das Summen der Kaffeemaschine zu einer Kulisse, die wie dafür gemacht schien, Gespräche zu verbergen.
Die Tasse vor ihr war halbvoll, der Kaffee längst kalt. Ihre Hände ruhten reglos auf der Tischplatte, während ihre Gedanken um die verschlüsselte Nachricht kreisten, auf die sie wartete. Das sichere Kommunikationsgerät in der Tasche ihrer schwarzen Jacke vibrierte schließlich, und ihr Herz setzte für einen Moment aus. Sie griff danach, ihre Finger zögerten für den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie das Gerät herauszog.
Ein vorsichtiger Blick umher zeigte ihr, dass keiner der anderen Gäste Notiz von ihr nahm – ein Mann mit einem Regenschirm scrollte auf seinem Smartphone, eine Frau blätterte in einer Zeitschrift. Doch Hanna wusste, dass das nichts bedeutete. In ihrer Welt war Unauffälligkeit oft die perfekte Tarnung. Sie hielt das Gerät dicht an sich und öffnete die Nachricht.
„Informationen über Lara. Treffen Sie mich um 15:00 Uhr. Vertrauen ist ein zweischneidiges Schwert.“
Die Worte schienen sich in ihr Gedächtnis einzugraben. Lara. Der Name hatte die Macht, eine Lawine aus Erinnerungen, Schuldgefühlen und Hoffnung in ihr auszulösen. Sie starrte auf die Nachricht, während ihr Kopf fieberhaft arbeitete. War dies die Chance, endlich die Wahrheit zu erfahren? Oder ein sorgfältig gewebtes Netz, um sie in eine Falle zu locken? Der Gedanke, Lara lebend sehen zu können, war fast überwältigend. Doch sie wusste, dass Hoffnung eine Waffe sein konnte – und in den falschen Händen tödlich.
Ihr Blick wanderte zur Uhr an der Wand. Es blieben weniger als zehn Minuten. Sie zog ihre Jacke enger um sich, ihre Finger streiften unauffällig die kleine Waffe, die in einer Innentasche verborgen war. Es war ein beruhigendes Gewicht, das sie an ihre Handlungsfähigkeit erinnerte. Als sie zur Theke ging, um zu zahlen, begegnete der Barista ihrem geistesabwesenden Lächeln mit einem höflichen Nicken. Ihre Gedanken waren längst woanders.
Zurück an ihrem Tisch wählte sie einen besseren Platz aus: ein kleiner Tisch nahe der Wand mit direktem Blick auf die Eingangstür. Die Fenster boten ihr genug Sicht auf die Straße, um mögliche Beobachter zu erkennen, und die Wand hinter ihr gewährte ihr Sicherheit. Sie positionierte sich so, dass sie im Notfall schnell reagieren konnte. Ihre Finger umspielten den Löffel in ihrer leeren Tasse, während sie auf die Uhr sah. Punkt 15:00 Uhr öffnete sich die Tür.
Ein Mann trat ein, und Hanna wusste sofort, dass er derjenige war. Seine dunkelgraue Jacke, die eingefallenen Wangen und die scharfen, prüfenden Augen machten ihn zu einer diskreten Bedrohung. Sein Blick wanderte durch den Raum, bevor er sich direkt auf sie richtete. Ohne zu zögern, trat er an ihren Tisch, zog den Stuhl heraus und setzte sich.
„Hanna Winter,“ sagte er leise, fast wie eine Feststellung. Seine Stimme hatte eine dunkle, kontrollierte Qualität, die sie sofort aufhorchen ließ. „Mein Name ist Viktor.“
Hannas Finger krümmten sich leicht um die Tischkante. Ihre grünen Augen hielten seinen Blick, kühl und abwartend. „Sie scheinen mich zu kennen,“ sagte sie, ihre Stimme neutral und ohne einladenden Ton.
„Nicht persönlich. Aber ich kenne Ihren Ruf.“ Seine Worte waren präzise, gewichtet, als ob er sich jedes Wort sorgfältig überlegte. Er zog eine kleine Mappe aus seiner Jacke und legte sie auf den Tisch. „Ich bin hier, weil wir ein gemeinsames Ziel haben könnten. Aber bevor wir darüber sprechen, sollten Sie das hier sehen.“
Hanna zögerte für einen Moment, bevor sie die Mappe öffnete. Ihre Finger bewegten sich vorsichtig, wie bei etwas Zerbrechlichem. Das erste, was sie sah, war ein Foto. Es zeigte Lara. Ihr Atem stockte, und für einen Augenblick schien die Welt um sie herum zu verschwinden. Laras Gesicht wirkte angespannt, ihre Augen müde, doch sie lebte. Im Hintergrund des Fotos erkannte Hanna ein Fenster mit einem markanten Symbol – ein Symbol, das sie aus der Welt des Karnevals kannte.
„Wo haben Sie das her?“ Ihre Stimme war ruhig, doch die Spannung in ihrem Körper verriet ihre innere Aufruhr.
„Wir beobachten den Karneval schon seit Jahren,“ sagte Viktor und lehnte sich zurück. „Ihr Name tauchte immer wieder auf, und jetzt sind wir hier. Lara steht im Zentrum von etwas, das größer ist, als Sie sich vorstellen können.“
Hanna verschränkte die Arme vor der Brust, ihre Haltung blieb abwartend. „Wer ist ‚wir‘?“
„Eine Gruppe, die daran arbeitet, den Karneval zu Fall zu bringen.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln, das wenig Wärme ausstrahlte. „Und Sie könnten eine Schlüsselrolle dabei spielen.“
Hanna legte das Foto zurück in die Mappe und schloss sie mit einer kontrollierten Bewegung. „Und warum sollte ich Ihnen vertrauen?“
„Vertrauen Sie niemandem, Frau Winter,“ sagte Viktor, wobei ein Hauch von Amüsement in seiner Stimme mitschwang. „Aber Sie werden herausfinden, dass wir denselben Feind haben.“
Er zog eine schlichte Visitenkarte hervor und schob sie über den Tisch. Nichts weiter als eine Adresse und der Satz: „Die Schatten sind nicht immer das, was sie scheinen.“
Hanna nahm die Karte zwischen zwei Fingern, drehte sie langsam, während sie seine Bewegungen aufmerksam musterte. Etwas an ihm – vielleicht die Präzision seiner Worte oder die Spannung in seinen Schultern – ließ sie spüren, dass er mehr verschwieg, als er preisgab. „Soll das alles sein?“
„Das ist alles, was ich Ihnen im Moment geben kann,“ sagte er und erhob sich. „Wenn Sie bereit sind, mehr zu erfahren, kommen Sie zu dieser Adresse. Aber seien Sie vorsichtig – in unserer Welt ist nichts, wie es scheint.“
Mit einem letzten Blick auf Hanna verließ er das Café, und sie blieb allein zurück. Langsam kehrten die Geräusche des Cafés in ihr Bewusstsein zurück – das Klappern der Tassen, das gedämpfte Summen der Gespräche. Doch ihr Geist hielt noch an diesem Moment fest.
Hanna betrachtete die Karte, bevor sie sie in ihrer Jackentasche verschwinden ließ. Ihre Gedanken rasten, während sie das Foto erneut aus der Mappe zog. Das Bild und das Symbol im Hintergrund waren nicht nur Hinweise – sie waren ein Versprechen und eine Warnung zugleich. In ihrem Inneren tobten Hoffnung und Zweifel wie ein Sturm. Sie wusste, dass dies ein Schritt in unbekannte Gefahren war. Doch für Antworten war sie bereit, das Risiko einzugehen.
Mit einem letzten Blick in die Mappe erhob sie sich und verließ das Café. Der Regen hatte aufgehört, und ein fahles Licht fiel durch die Wolken. Ihre Schritte hallten auf dem nassen Pflaster wider, begleitet von einer neuen Entschlossenheit. Die Jagd ging weiter, und Hanna würde bereit sein.